Christina P.
Auffallend unauffällig
Wann hast Du realisiert, dass Dir das Sprechen in bestimmten Situationen schwer fiel?
Ich bin Christina und 26 Jahre alt. Der Mutismus war schon immer da. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der es keinen Mutismus gab und in welcher ich normal sprechen konnte. Und genauso wie der Mutismus schon immer da war, ist er auch schon recht früh aufgefallen. Nur wurde er nicht unter diesem Begriff verordnet. Es wurde auch nichts unternommen oder hingeschaut, was denn dieses Schweigen war. Warum ich an so vielen Orten und gegenüber so vielen Menschen immer verstummte. Das wurde einfach hingenommen. Manchmal zwar angesprochen, schon im Kindergarten, in der Grundschule und vor allem während der Zeit auf dem Gymnasium; aber mehr nicht.
Wie fühlten sich die Reaktionen Deiner Mitmenschen an?
Als Kind machte ich mir wenig Gedanken darüber. Lange Zeit dachte ich sogar, dass es allen Menschen so gehen würde, dass sie nur zu Hause sprechen können und in der Schule, beim Arzt, bei Nachbarn verstummen würden. Bis mir irgendwann auffiel, dass es den meisten anderen Menschen nicht so ging. Dass meine Mitschüler:innen mit den Lehrer:innen, den Leuten aus der Schulbetreuung oder mit fremden Eltern reden konnten.
Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass mit mir also irgendetwas nicht stimmte. Dass bei mir irgendetwas falsch war. Aber was es war, das wusste ich nicht. Ich wusste nicht, warum ich nur zu Hause sprechen konnte. Ich wusste nicht, was es war, das mich am Sprechen in der Schule oder an anderen Orten hinderte. So oft zerbrach ich mir den Kopf darüber und mindestens genauso oft nahm ich mir zum Beispiel während der Schulzeit vor, mich doch „einfach“ am nächsten Tag im Unterricht zu melden und etwas zu sagen.
Aber das Schweigen war mächtiger. Die Blockade war zu groß, zu stark. Und ich wusste nicht einmal, was das alles überhaupt war. Ich wusste nur, dass ich mir unfassbar sehr wünschte, normal reden zu können. Wie alle anderen Menschen. Ich wollte normal sein.
In welchen Momenten gelang es Dir zu sprechen?
Auf dem Gymnasium wurde es schwieriger. Die mündliche Beteiligung wurde immer bedeutender – dazu kam, dass jemand der nicht redet, nicht „cool“ ist. Nicht dazugehören kann. Nicht interessant ist. Nicht beachtet wird. Anfangs sprach ich noch mit einigen wenigen Mitschüler:innen und auch diese gingen noch auf mich zu. Das wurde mit der Zeit jedoch immer weniger und weniger. Ich wurde als „komisch“ angesehen. Ich war komisch, seltsam, anders. Indem ich nicht sprach. Weder im Unterricht – nicht von mir aus und auch nicht, wenn ich von Lehrkräften direkt angesprochen wurde – noch in den Pausen mit meinen Mitschüler:innen. Ich war nur noch die Stumme. Es gab Kommentare von Mitschüler:innen und auch von Lehrer:innen, die mich sehr verletzten. Und auf die ich nie etwas erwidern konnte.
Die Schule wurde zu einem Ort, der mir gar keine Freude mehr bereitete. Ich hatte Angst davor, im Unterricht drangenommen zu werden und nichts antworten zu können. Auch wenn ich die Antworten meistens wusste, denn ich war eine gute Schülerin und hatte immer sehr gute schriftliche Noten. Aber wurde ich im Unterricht etwas gefragt, war da einfach nur Leere in meinem Kopf. Alles war weg. Oder ich hatte die Antwort, die Worte, im Kopf, aber sie kamen einfach nicht aus mir heraus. Sie kamen nicht über diese Mutismusmauer hinweg. Ich konnte nur stumm dasitzen und warten, dass die Situation vorüberging.
Während der Zeit auf dem Gymnasium ging es mir immer schlechter. In der Grundschule war die mündliche Beteiligung im Unterricht noch nicht so wichtig. Dazu hatte ich immer gute schriftliche Noten und manche Lehrer:innen meinten, dass ich schon irgendwann mehr reden würde. Außerdem hatte ich Freundinnen, mit denen ich ein wenig reden konnte und die sich auch nicht daran störten, wenn ich mal weniger redete.
Die Angst, die sich irgendwann entwickelte, war die Angst vor diesen Situationen. Die Angst davor, zu verstummen, mir blöde und verletzende Kommentare anhören zu müssen oder durch mein Verstummen nicht aus Situationen herauszukommen. Die Angst vor der Bewertung anderer Menschen und was diese von mir denken würden.
Ich wusste immer noch nicht, warum ich so oft nicht sprechen konnte.
Jeden Abend wünschte ich mir, dass ich am nächsten Morgen aufwachen und normal sprechen können würde.
Ich fühlte mich einsam und allein. Seltsam und anders. Oft nicht erwünscht. Während meine Mitschüler:innen Cliquen und Freund:innen hatten, war ich alleine. Fühlte mich ausgeschlossen und isoliert. Oft fühlte ich mich in der Schule unsichtbar. Obwohl ich paradoxerweise durch das Nicht-Sprechen manchmal auch auffallend war. Auffallend unauffällig.
Wann hast Du das erste Mal von Mutismus erfahren?
In Gruppenarbeiten wollte man mich oft nicht dabeihaben. „Die redet doch eh nicht“, hörte ich von meinen Mitschüler:innen, wenn ich mit in deren Gruppe sollte. Ich wurde „stummer Fisch“ genannt oder hörte andere unschöne Bemerkungen. Auch manche Lehrer:innen machten blöde Sprüche – vor der gesamten Klasse oder dem gesamten Kurs. Wenn es die mündlichen Noten gab, fühlte ich mich immer ganz besonders schlimm. Lehrkräfte, die mir sagten, ich solle mich doch mal im Unterricht beteiligen – aber niemand fragte, warum ich das denn nicht tat. Wussten sie doch alle, dass ich immer sehr gute Noten schriftlich hatte. Da hätte man aufmerksam werden müssen. Mitschüler:innen, die sich über meine mündlichen Noten unterhielten als wäre ich nicht dabei und diese unfair und viel zu gut für mich fanden, wenn manche Lehrkräfte mir etwas „bessere“ Noten gaben, weil sie abgegebene Hausaufgaben o.ä. mit einbezogen.
Ich spürte so viel Druck, dass ich im Unterricht doch endlich mal etwas sagen und mich beteiligen müsse. Druck von den Lehrer:innen. Druck von mir selbst, weil ich mir meine Noten auf den Zeugnissen nicht versauen und doch endlich normal sein wollte. Aber Druck machte eigentlich alles immer nur noch schwerer. Noch unmöglicher.
Im Französischkurs in der Oberstufe war es mir plötzlich möglich, mich zu melden im Unterricht. Aber auch nur dort. Ich weiß bis heute nicht, woran das lag. Ob es an der Sprache lag – wobei ich mich in den Schuljahren davor nie im Französischunterricht gemeldet habe. Ob es an der Lehrerin oder an der Kurszusammensetzung lag oder vielleicht an der Kombination aus allem. Zwei Jahre lang meldete ich mich regelmäßig im Französischunterricht, um Hausaufgaben oder Texte vorzulesen – nach zwei Jahren war das plötzlich wieder vorbei, nicht mehr möglich. Obwohl sich am Kurs nichts geändert hatte. Aber im letzten Schuljahr vor dem Abitur meldete ich mich wieder kein einziges Mal im Französischunterricht.
Es war allerdings nicht nur das Sprechen, das oft nicht möglich war. In Situationen, in denen ich verstummte, bin ich meistens auch ganz erstarrt. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht durch Gestik oder Mimik kommunizieren. Im Unterricht habe ich meistens völlig bewegungslos auf meinem Platz gesessen und vor allem im Sportunterricht fiel es mir auch schwer, mich beispielsweise an Ballspielen o.ä. zu beteiligen. Oder auch Teamspiele – denn die erfordern meistens irgendeine Art von Kommunikation.
Auch im Alltag war vieles schwierig für mich. Ich fühlte mich allein, konnte auch außerhalb der Schule keine Kontakte knüpfen oder Freundinnen finden, da ich mit niemandem sprach. Mit meiner Klavierlehrerin sprach ich kaum – für diese war das aber kein Problem, vielleicht war hier auch einfach die Musik unsere Sprache, unsere Kommunikation. Das Telefonieren bereitete mir große Probleme und war nicht möglich. An der Kasse beim Einkaufen „Hallo“ zu sagen oder nachzufragen, wenn ich etwas nicht finden konnte, war genauso wenig möglich wie selbst etwas im Restaurant zu bestellen.
Es war 2013, knapp ein Jahr vor meinem Abitur, als ich das erste Mal auf den Begriff „selektiver Mutismus“ stieß. Plötzlich machte alles Sinn. Auf einmal gab es einen Namen dafür.
Und noch viel erstaunlicher: Es gab noch mehr Menschen mit diesem Problem. Ich war nicht die einzige. Dass es einen Namen dafür gab, löste aber das Problem nicht. Und auch die Erkenntnis, dass ich nicht die einzige mit diesem Problem war, machte erstmal nichts besser.
Erst mit 18, nach meinem Abitur in meiner ersten Psychotherapie, bekam ich die offizielle Diagnose. Die Therapie begann ich mit Hilfe einer Lehrerin, welche ich in meinem letzten Schuljahr bekam und welche endlich mehr hinschaute als alle anderen Lehrkräfte zuvor. Von ihr erhielt ich endlich Hilfe und Unterstützung und vor allem auch Akzeptanz und Verständnis. Wir trafen uns in Freistunden, auch als ich während der Abiturphase gar keinen Unterricht mehr hatte, und sie begleitete mich auch zu einer schulpsychologischen Beratungsstelle.
Was hat Dir auf deinem Weg geholfen?
In meiner ersten Psychotherapie, die ich einige Monate nach meinem Abitur anfing, ging es erst einmal gar nicht viel um das Schweigen. Obwohl dieses in einer so lauten Stille immer im Raum stand. In den ersten Stunden kommunizierte ich mit meiner damaligen Therapeutin schriftlich. Dass auch sie schriftlich kommunizierte, war für mich in diesen Stunden sehr hilfreich. Dass wir uns also auf der gleichen Kommunikationsebene befanden. Dadurch fühlte es sich für mich okay an, schriftlich zu kommunizieren. Irgendwann konnte ich mit ihr auch mehr und mehr sprechen – durch das Vertrauen, das ich zu ihr hatte; durch den Beziehungsaufbau.
Einige Zeit später begann ich parallel mit Logopädie, um mich eben auch konkret mit dem Mutismus auseinanderzusetzen. In den Logopädiestunden haben wir verschiedene Spiele und Übungen gemacht, bis ich irgendwann auch mit meiner Logopädin ein wenig sprechen konnte und die Logopädie zu einem sicheren Raum für mich wurde. Wir haben uns auch viel mit der Stimme beschäftigt, um mich mit meiner Stimme sicherer zu fühlen und ihr zu vertrauen. Auch haben wir Dialoge geübt oder Frage-Antwort-Spiele gemacht und irgendwann haben wir auch mit in-vivo-Übungen angefangen. Wir haben also ganz konkrete Sprechsituationen geübt. Diese haben wir erst in der Logopädie vorbereitet und ich habe sie gemeinsam mit meiner Logopädin geübt und dann sind wir in die echten Situationen gegangen. Zum Beispiel Menschen auf der Straße ansprechen und etwas fragen. Im Geschäft etwas nachfragen. Oder das Telefonieren.
Im Laufe der Jahre habe ich viele Fortschritte gemacht. Zu diesen Fortschritten haben ganz unterschiedliche Dinge beigetragen: Einerseits sowohl die Psychotherapie(n) als auch die Logopädie. Andererseits aber auch, dass ich nach der Schulzeit Freundinnen gefunden habe, die mich so akzeptieren wie ich bin. Ein anderer hilfreicher Aspekt ist, wenn andere Menschen über den Mutismus Bescheid wissen. Dann habe ich ein sichereres Gefühl und fühle mich nicht unter Druck gesetzt, unbedingt etwas sagen zu müssen. Gleichzeitig hilft es auch meinem Gegenüber, zu wissen warum ich nicht so viel rede wie manch andere Menschen oder manchmal gar nicht antworten kann. Dieser Aspekt konnte mir in einigen Situationen schon helfen: Zum Beispiel während meines Studiums, wenn Studienleistungen anstanden/anstehen, in welchen viel mündliche Beteiligung, Gruppenarbeit oder Präsentation gefordert sind. Einige Male habe ich den betreffenden Dozent:innen vorher meine Schwierigkeiten mit dem Sprechen und dem Mutismus per Mail erklärt und jedes Mal wurde dies sehr verständnisvoll aufgenommen, so dass ich mit einem etwas entspannteren und sichereren Gefühl diese Leistungen absolvieren konnte.
Wie lebst Du heute mit Mutismus?
Heute bin ich 26, schließe im nächsten Jahr meinen Bachelor in Psychologie ab und habe viele Fortschritte gemacht in Bezug auf den Mutismus. Noch immer begleitet mich der Mutismus und ist auch noch fast jeden Tag spürbar. Aber keinesfalls mehr in dem Ausmaß wie vor fünf oder zehn Jahren. Ich kann telefonieren, meistens schreibe ich mir vorher Stichpunkte auf, manchmal geht es auch ohne. Manchmal bevorzuge ich aber auch immer noch das Schreiben von Mails statt Telefonieren. Ich kann fremde Menschen in Geschäften etwas fragen, kann an der Kasse beim Bezahlen etwas sagen. Im Studium kann ich mich in Gruppenarbeiten beteiligen oder Ergebnisse vortragen, ich kann in Sprachkursen an der VHS reden. Meine Nachbar:innen kann ich begrüßen, mein Essen im Restaurant selber bestellen.
Situationen, die noch immer sehr schwer sind, sind solche in denen die Erwartung, dass ich etwas sage, sehr groß ist. Oder Situationen mit vielen Menschen. Wobei die Definition von „viele Menschen“ für mich schon bei drei Menschen anfängt. In einem Zweiergespräch kann ich recht gut reden, auch wenn ich die andere Person nicht kenne. Sobald es mehr als zwei Personen sind, verstumme ich oft wieder. Eine andere Schwierigkeit ist das intuitive, spontane Sprechen. Es gibt Situationen, die immer gleich ablaufen und in denen man fast immer das gleiche sagt. Aber es gibt auch Situationen, in denen ich ganz spontan angesprochen oder etwas gefragt werde. Situationen, in denen spontane Gespräche entstehen. Da sind dann wieder alle Worte weg, Leere im Kopf. Ein großes Nichts, bei welchem ich immer wieder merke, dass Mutismus und gleichzeitig Denken, Reagieren, Sprechen nicht möglich ist.
Eine andere Veränderung ist, dass ich nicht mehr immer und überall an das Sprechen oder Nicht-Sprechen denke. Während ich mir früher vor jeder Situation tausend Gedanken machte, ob ich dort denn reden können werde und wie ich denn die Situation lösen soll, falls es nicht klappen sollte, mache ich mir heute nicht mehr so viele Gedanken. Es gibt mittlerweile Situationen, bei denen ich vorher darauf vertrauen kann, dass ich dort sprechen kann oder bei denen ich mir sicher bin, dass sie trotzdem irgendwie lösbar sein werden, auch wenn ich doch verstummen sollte.
Trotz der vielen Fortschritte fühle ich mich auch oft noch sehr eingeschränkt. Ich kann nicht einfach so auf fremde Menschen zugehen, ich habe Schwierigkeiten dabei mich an Gesprächen mit mehreren Menschen zu beteiligen und von mir aus etwas zu sagen. Das ist häufig sehr frustrierend. Vor allem wenn ich so gerne mehr sagen möchte, als ich letztendlich sagen kann.
Aber auch wenn es immer wieder Hindernisse und Frustration gibt, so gibt es eben auch die Fortschritte. Und die sind wichtig. Die positiven Erfahrungen, die ich mache und die mich oft genug daran erinnern, dass noch mehr Fortschritte folgen können und werden.
Mutismus ist eine Mauer – die mich von anderen Menschen trennte, das Gefühl aufkommen ließ, anders oder falsch zu sein und ein sehr schwieriges Gefühl – ratlos, warum man nicht spricht.
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