Mythen sind falsche Annahmen und Überzeugungen, die weit verbreitet sind und sich hartnäckig halten. Solche Alltagsmythen können harmlos und unterhaltsam sein, manchmal irreführend, und im schlimmsten Fall können sie großen Schaden anrichten. Gerade im Bereich des selektiven Mutismus gibt es zahlreiche solcher Mythen, die immer mal wieder in Elternforen oder anderen sozialen Medien kursieren. Doch woher kommen diese Mythen? Und steckt im einen oder anderen „Mythos” nicht doch ein Körnchen Wahrheit?
Für viele Menschen, die das erste Mal mit selektivem Mutismus in Kontakt kommen, ist dieses Phänomen gleichermaßen irritierend wie faszinierend. Warum schweigt ein Kind, obwohl es doch sprechen könnte? Wenig überraschend ranken sich zahlreiche Mythen um den selektiven Mutismus: "Er wird durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst oder entsteht in zerrütteten Familien", "Es gibt ihn gar nicht, das ist alles nur Schüchternheit", "Die Kinder schweigen absichtlich, um andere zu kontrollieren", "Therapien bringen nichts". In einem kleinen Forschungsüberblick gehen wir einer persönlichen „Top 5” von häufig anzutreffenden Mythen auf den Grund.
(Dieser Text ist gekürzt. Den vollständigen Artikel finden Sie im Heft 26 unserer Fachzeitschrift.)
Dass der Grund für selektiven Mutismus ein psychologisches Trauma ist, ist ein gefährlicher Mythos, der seit Jahren klar widerlegt ist. Gemäß einer Befragung aus den USA glauben dies dennoch immer noch knapp ein Viertel der Lehrpersonen und sogar fast ein Fünftel der Schulpsychologen und -psychologinnen (Dillon, 2016). Solche und andere Fehlannahmen können sehr belastend für betroffene Familien sein und schwerwiegende Folgen für alle Beteiligten haben. Wird in einer Therapie jahrelang nach einem verborgenen Trauma gesucht, das es nicht gibt, ist das verlorene Zeit. Das erstmalige Auftreten des selektiven Mutismus im Alter von drei bis vier Jahren fällt in eine Zeitspanne, in der Kinder verhältnismäßig viel erleben: Sie durchleiden womöglich eine Kinderkrankheit, brechen sich den Arm, ziehen mit der Familie an einen neuen Ort, erleben die Geburt eines Geschwisterchens, der Großvater stirbt, die Eltern lassen sich scheiden. Solche Erlebnisse können aber aufgrund der zeitlichen Nähe als Ursache für den Mutismus missinterpretiert werden, oft auch in der nachträglichen Erinnerung.
Wenn ein Kind in einer Einzelsituation nach tausend Versuchen und gutem Zureden einfach nicht spricht, obwohl man weiß, dass es zuhause und mit einigen Ausgewählten spricht, wenn ein Kind im Unterricht bei einem Bewegungsspiel nicht mitmacht oder im Kreis nicht aufsteht, während es alle anderen tun, und wenn ein Kind sich nicht so verhält, wie wir es von einem schüchternen, ängstlichen Kind erwarten würden, sondern das Bild zerreißt und die Tür zuknallt: Wie passt das zusammen? Ist das Kind nicht einfach stur und manipulativ?
Ab den 1990er Jahren setzte sich die Auffassung durch, dass es sich beim selektiven Mutismus primär um eine Angststörung handelt (Black & Uhde, 1995), und damit war auch die Willensfrage vom Tisch. Oppositionelles Verhalten ist zwar bei einem Teil der Kinder weiterhin ein Thema, insbesondere auch zuhause (Cohan et al., 2008; Diliberto & Kearney, 2016; Yeganeh et al., 2006), kommt aber meist nur in milden Varianten und im klinisch unauffälligen Bereich vor (Black & Uhde, 1995; Muris & Ollendick, 2015). Nur ein kleiner Teil der Kinder (6–10 %) erfüllt die Kriterien für eine oppositionelle Verhaltensstörung (Viana et al., 2009). Dass Kinder das Schweigen gezielt einsetzen und sich weigern zu sprechen, darf also stark bezweifelt werden.
Die ursprüngliche Auffassung vom selektiven Mutismus als bewusste Verweigerungshaltung ließ sich nicht lange aufrechterhalten. Spätestens seit den systematischeren Forschungsarbeiten ab den 1990er Jahren wurde der Zusammenhang mit Angststörungen immer offensichtlicher und wird heute kaum noch bestritten. Dass Kinder mit selektivem Mutismus sprechen könnten, wenn sie nur wollten, ist daher ein Mythos. Das Schweigen geschieht aus einer Blockade heraus, bedarf keiner Willensanstrengung und betrifft oft mehr als die bloße verbale Kommunikation: Das Kind erstarrt gesamthaft, was daher auch nonverbale Handlungen beeinträchtigen kann, die auf den ersten Blick nichts mit dem Mutismus zu tun haben (z.B. das Sitzenbleiben im Kreis, während alle anderen aufstehen). Verhalten, das als bewusste Verweigerung interpretiert wird, kann aber auch einfach eine Strategie zur Stressbewältigung, Selbstregulation und zum Schutz vor Überforderung sein. Zudem ist es für viele Personen, die einen engeren Kontakt aufgebaut haben und dennoch von dauerhaftem Schweigen betroffen sind – häufig Lehrpersonen, Mitschülerinnen und Mitschüler –, nicht nachvollziehbar, warum sich das Verhalten nicht mit der Zeit verbessert. Die anfängliche Zuversicht weicht zunehmender Frustration. Hier braucht es ein großes Verständnis, um nicht in das Muster des Vorwurfs eines vermeintlich willentlichen Schweigens zurückzufallen.
Schüchternheit und selektiver Mutismus sind zwei verschiedene Dinge, auch wenn sich das Erscheinungsbild auf den ersten Blick ähneln mag. Kinder mit selektivem Mutismus können ebenfalls schüchtern sein, nicht wenige sind es aber auch nicht. Das Schweigen an sich hat nichts mit Schüchternheit zu tun: Es ist kein Hindernis, das Überwindung braucht, sondern eine Blockade, die durchbrochen werden muss.
Die Hypothese, dass die Eltern schuld am selektiven Mutismus sind, etablierte sich relativ früh ab den 1950er Jahren und stammt aus einer familiendynamischen Perspektive (z. B. Salfield, 1950). Darin wird selektiver Mutismus als Reaktion des Kindes auf gestörte innerfamiliäre Beziehungen zurückgeführt (s. Abb. 5). Prototypische Beispiele, vorwiegend aus Einzelfallanalysen, sind Beschreibungen einer unreifen, dominanten oder überfürsorglichen Mutter sowie eines strengen, passiven oder häufig abwesenden Vaters (Dow et al., 1995).
Eine Studie von Alyanak et al. (2013) zeigte, dass sich die Erziehungsstile in Familien von Kindern mit und ohne SM nicht unterscheiden. Eltern von Kindern mit SM scheinen zwar mehr Kontrolle auszuüben und sind eher überfürsorglich, dieser Zusammenhang wird aber durch die erhöhte Ängstlichkeit von Eltern und Kindern erklärt (Edison, 2011). Ein Umstand, der sich auch bei anderen Angststörungen beobachten lässt (Muris, 2015).
Dass eine dysfunktionale Familie der Grund für selektiven Mutismus ist, ist ein Mythos. Eltern trifft hier definitiv keine Schuld, und die frühen familiendynamischen Perspektiven müssen als fehlgeleitet betrachtet werden. Allerdings können ungünstige Interaktionsmuster der Eltern und des sozialen Umfelds (z. B. die Schule) eine Rolle bei der Aufrechterhaltung des Mutismus spielen: Überfürsorglichkeit, eine Akzeptanz und Normalisierung des Schweigens sowie die Übernahme der Kommunikation für das Kind sind zwar gut gemeint, unterstützen aber das Schweigeverhalten. Jede angstauslösende Situation, die das Kind meiden kann / die ihm abgenommen wird, nährt die Angst und das Gefühl des Kindes, es nicht selbst schaffen zu können. Aus diesem Grund setzen moderne systemisch-orientierte Ansätze, die aus der familiendynamischen Perspektive entstanden sind, an diesen Punkten an und beraten Familien und Schulen dabei, wie sie das kommunikative Verhalten des Kindes unterstützen können.
Tatsächlich galt die Behandlung von selektivem Mutismus lange Zeit als schwierig. Dank dem zunehmenden Wissen über das Störungsbild und der Weiterentwicklung empirisch fundierter Therapieansätze ist selektiver Mutismus heute aber gut behandelbar, insbesondere bei frühzeitiger Erkennung und Therapie.
Es gibt nach wie vor viele Mythen, die sich um den selektiven Mutismus ranken. Einige dieser Mythen konnten im Laufe der Zeit dank systematischer Forschungen widerlegt werden, sind aber immer noch im Umlauf. Sie sind meist nicht böse gemeint und verbreiten sich gerne dort, wo Faszination und Halbwissen aufeinandertreffen. Unreflektiert weitergegeben können sie aber großen Schaden anrichten. Das ist beim selektiven Mutismus häufig der Fall. Umso wichtiger ist es deshalb, die Gesellschaft über selektiven Mutismus aufzuklären, und dass sich Angehörige, Lehrpersonen und das Umfeld am besten direkt bei Fachpersonen informieren.