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Fachzeitschrift

Selektiver Mutismus bei Erwachsenen

Porträt eines jungen Mannes mit ernstem Blick
Illustration aus dem Schatten durch eine geöffnete Tür ins Licht treten
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Wenn die Angst das ganze Leben erstarren lässt

Autorin: Michaela Kaiser

Jeder von uns kennt das Lampenfieber, wenn man einen Vortrag oder eine Rede vor vielen Menschen halten soll. Auch die Aufregung vor einer Präsentation im Beruf, während eines problematischen Gesprächs oder bei einer Vorstellungsrunde ist kein fremdes Gefühl. Die meisten Menschen haben einfach Respekt oder gar „Angst“ vor dem öffentlichen Sprechen. Aber wie empfindet man, wenn die Angst vor dem Sprechen allgegenwärtig ist, wenn die Sprachlosigkeit den ganzen Körper erstarren lässt und man sich ohnmächtig fühlt, körperlich zu reagieren? Die dauerhafte Konsequenz für den Schweigenden: Isolation, Frustration, Verzweiflung, Depressionen und nicht gerade selten Suizidgedanken. Hinzu kommen häufig ein nicht vorhandenes soziales Freizeitverhalten, keine berufliche Qualifikation, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von Familie und Staat.

Das Störungsbild Mutismus bei Erwachsenen wird zwar bei Ärzten und Therapeuten inzwischen bekannter. Es gibt jedoch nur wenige Therapeuten, die Erfahrung in der erfolgreichen Therapie des Schweigens nachweisen können. In der Literatur findet man größtenteils das Thema „schweigende Kinder“, hin und wieder Beiträge zu schweigenden Jugendlichen. Publikationen über das angstbesetzte Schweigen bei Erwachsenen sind rar.

Psychosoziale Belastungen im Leben mutistischer Erwachsener

  • Wohnsituation

Viele mutistische Jungerwachsene leben lange über die Adoleszenz hinaus zu Hause bei den Eltern oder Großeltern. Erstens werden dort sowohl die Versorgung der alltäglichen Bedürfnisse gesichert als auch die organisatorischen Verpflichtungen wie Arztbesuche u. ä. übernommen. Zweitens fehlen häufig die finanziellen Mittel, auf eigenen Beinen zu stehen, sowie die sprachliche Fähigkeit, den Auszug, die Wohnungsbesichtigung, Anmeldung beim Einwohnermeldeamt usw. zu bewältigen. Gespräche mit Vermietern, Nachbarn, Energieversorgern, Behörden, Telekom usw. entfallen.

  • Berufliche Perspektiven und finanzielle Unabhängigkeit

Der Weg in das Berufsleben ist für den Großteil der Betroffenen eine Hürde, die ohne fremde oder therapeutische Hilfe meist unüberwindbar ist. Teilweise wird sogar noch durch besonders freundliche und engagierte Mitarbeiter des Arbeitsamtes eine Ausbildung ermöglicht. Der Weg in die dauerhafte Berufstätigkeit scheitert jedoch oft an der Kommunikationsunfähigkeit gegenüber Kollegen, Vorgesetzten und Kunden, egal ob im persönlichen Kontakt oder über das Telefon. Folglich sind die Betroffenen dauerhaft abhängig von ALG 1 oder ALG 2 (Hartz IV), Versicherungen oder den Angehörigen. Persönliche Wünsche und Bedürfnisse, ob materieller oder gesellschaftlicher Art, werden deshalb kaum geäußert und so auch nicht erfüllt.  Dass Mutismus nicht die Intelligenz beeinträchtigt, ist vielfach beschrieben. Unsere Gesellschaft ist jedoch geprägt von Kommunikation und sprachlichem Austausch. Es gibt kaum noch Arbeitsstellen, die ohne Sprache zu bewältigen sind. Kundenkontakt, der regelmäßige Austausch mit Kollegen, Präsentationen usw. erfordern Selbstbewusstsein, Eloquenz und rhetorische Fähigkeiten. Teamfähigkeit und „Sichverkaufen- Können“ sind gefragte Kriterien im Vorstellungsgespräch. Dies ist natürlich auch den Schweigern bewusst und setzt sie schon im Vorfeld unter besonderen psychischen Druck.

Kollegen beim Brainstorming am runden Tisch
  • Freundeskreis und Freizeitverhalten

Das Umfeld von Mutisten beschränkt sich oft auf wenige Personen. Bei den meisten Schweigern sind die Kommunikationspartner Familienmitglieder. Hin und wieder bleibt eine Freundin oder ein Freund aus Kindheitstagen erhalten, aber das sind Einzelfälle. Durch die Sozialphobie, die oftmals mit Mutismus einhergeht, igeln sich die Schweiger zu Hause ein, verbringen viel Zeit vor dem Computer oder vor dem Fernseher. Kino, Restaurantbesuche, Sportvereine o. ä. Aktivitäten werden vermieden, weil man dort dem sprachlichen Austausch nicht ausweichen kann. Früher oder später verliert meist auch der aufmerksamste Freund die Lust, dauerhaft das Sozialprogramm zu gestalten.  Die Angst vor sozialen Kontakten, weil einem etwas Peinliches passieren könnte, ist allgegenwärtig. Ebenso verhindern es die Gedanken, wie man von anderen Menschen betrachtet wird oder aufgrund des Schweigens als merkwürdige Person empfunden wird, häufiger in das gesellschaftliche Leben einzutauchen. So erscheint es den meisten unmöglich, Freunde zu finden. Dank der heutigen Technik, der ständigen Möglichkeit schriftlich zu kommunizieren, ist es sicherlich einfacher geworden, Kontakte zu knüpfen. Wie die Beispiele von Betroffenen zeigen, ist es leicht, über das Medium Internet Gleichgesinnte oder Freunde zu finden. Dies war noch vor 15 Jahren viel schwieriger. Die Freundschaften zu pflegen und zu erhalten, kostet jedoch genauso viel Mühe wie in der „realen“ Gesellschaft.

  • Partnerschaft

„Wie flirte ich beispielsweise mit jemandem, ohne mit ihm zu reden? Auch in diesem Punkt sollten Sie einmal einen Selbstversuch durchführen. Gehen Sie auf eine Person zu, die Sie vorher noch nie gesehen haben, und versuchen Sie dieser Person klarzumachen, dass Sie sie sympathisch finden, ohne dabei ein Wort zu sagen.“ (Hartmann/Lange 2013, 45–46) Treffender kann man es nicht formulieren.  Als mutistischer Mann eine Partnerin zu finden, ist wahrscheinlich noch schwieriger als für eine mutistische Frau. Meist wird erwartet, dass der Mann die Frau anspricht, was den Betroffenen zusätzlich unter Druck setzt. In Forumsbeiträgen wird häufig beschrieben, wie schwer es den erwachsenen Schweigern gerade in der Partnerschaft fällt, Gefühle, Bedürfnisse, aber vor allem Kritik zu äußern. Auch die therapeutische Erfahrung mit erwachsenen Schweigern bestätigt einen hohen Leidensdruck in diesem persönlichen und intimen Bereich. Unzufriedenheit durch mangelnde Gesprächsbereitschaft bestimmt die Beziehung, Frustration macht sich breit. Auch hier können aus Angst vor der Reaktion des Partners Bedürfnisse, Wünsche und Probleme nicht geäußert werden. Viel zu oft kommt es zu Trennungen, zumeist durch den sprechenden Partner, weil er das Schweigen nicht mehr erträgt. Der Mutist bleibt zurück, erneut enttäuscht von sozialen Kontakten. Er fühlt sich wieder allein und unverstanden.

  • Zusammenfassung

Die beschriebenen Beeinträchtigungen führen bei Nichtbehandlung des Schweigens langfristig zu einer völligen Stagnation des Lebensalltages. Der Betroffene gerät in einen Teufelskreis, der nicht zu durchbrechen scheint. Durch die fehlende Kommunikation sind die Arbeitssuche und finanzielle Absicherung unmöglich. Ohne finanzielle Grundlage sind die Ablösung von den Eltern und eine eigene Wohnung unerschwinglich. Ohne eigene Wohnung ist der Weg in eine Selbständigkeit nicht zu schaffen. Ohne Beruf und den Mut zu Freizeitverhalten ist das Aufbauen sozialer Kontakte, geschweige denn einer Partnerschaft, undenkbar. Da das Entgegenwirken unheimlich viel Kraft kostet, ist für viele schon der erste Schritt ein Siebenmeilenschritt. Der erwachsene Schweiger ist in seinem Leben vielen Menschen begegnet, die kein Verständnis für sein Verhalten hatten. Zudem hat er gelernt, die Personen in seinem Umfeld so genau zu beobachten, dass jede kleinste mimische oder gestische Reaktion seines Gegenübers beurteilt und interpretiert wird. Jede Veränderung der eigenen Lebenseinstellung hat gravierende Auswirkungen auf die derzeitige als relativ stabil und sicher empfundene Situation und bedeutet mehr Verantwortung, Pflichten und Aufgaben. Bei der genauen Analyse rücken die bei einer Veränderung zu erwartenden positiven Effekte schon mal in den Hintergrund. Das Leben erscheint als Sackgasse, aus der es keinen Ausweg und in der es keine Wendemöglichkeit gibt.

Konsequenzen für die therapeutischen Interventionen

Drei Disziplinen bieten mehr oder weniger häufig die Therapie von Mutismus bei Erwachsenen an: die Psychiatrie, die Psychotherapie sowie die Sprachtherapie. Gerade bei erwachsenen Schweigern ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der drei Fachrichtungen empfehlenswert und notwendig, da die möglichen Begleitsymptomatiken oft nicht nur von einem Therapeuten bewältigt werden können.

Bei der psychiatrischen Behandlung von Mutismus kommt es häufig zu einer kombinierten Therapie aus Pharmakotherapie und Psychotherapie. Diese verläuft meist stationär oder zumindest teilstationär. Die Einbettung in Depressionen oder Sozialphobien empfiehlt in der Mehrzahl der Fälle eine medikamentöse Therapie mit SSRIs (Selective Serotonin Reuptake Inhibitors), die stimmungsaufhellend wirken und zu einer Normalisierung des Hirnstoffwechsels beitragen. Dadurch werden die Stimmung und der Antrieb gesteigert.

Die Psychotherapie geht mit psychoanalytischen, verhaltenstherapeutischen, kognitiv verhaltenstherapeutischen oder gesprächstherapeutischen Ansätzen an die Betroffenen heran. So versucht z. B. die Psychoanalyse, den zugrunde liegenden seelischen Konflikt zu identifizieren und zu interpretieren, die Verhaltenstherapie, mit dem Patienten gemeinsam Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. Problematisch ist jedoch, dass gerade die Grundlage, nämlich die Gesprächsfähigkeit der Patienten, fehlt. Deshalb sind psychotherapeutische Behandlungsansätze erst nach einer beginnenden kommunikativen Öffnung sinnvoll.

Eine junge langhaarige Frau sitzt mit gesenktem Blick und aufgestütztem Kopf am Tisch einer Therapeutin

Eine Alternative innerhalb der Mutismus- Therapie, die zunehmend genutzt wird, ist die Sprachtherapie. Sie sieht den Mutismus als Kommunikationsstörung, bei der geholfen werden soll, wieder in allen Lebenssituationen, in denen es notwendig ist, zu sprechen. Dabei wird vor allem die gegenwärtige Situation betrachtet. Psychologische Erklärungsmuster stehen im Hintergrund. Es wird nicht an traumatischen Kindheits- oder Schockerlebnissen gearbeitet, sondern in erster Linie der Sinn von Sprache und Sprechen können vermittelt. Dies ist gerade bei einem manifestierten Störungsbild notwendig, da gemeinsam kommunikative und soziale Handlungsmuster entwickelt und daraufhin in Alltagssituationen geprobt werden. Der Schweiger muss langsam zurück in die Welt des Sprechens geführt werden.

Dabei kann eine psychiatrische bzw. medikamentöse Therapie helfen, erste Erfolge schneller sichtbar zu machen. In der Behandlung sollte über die Laut-, Silben-, Wort,- Satz- und Textebene langsam eine Verbalkommunikation ermöglicht werden. Erst wenn der Patient im therapeutischen Setting zu Gesprächen in der Lage ist, kann verlangt werden, dies auch in den Alltag zu übertragen. Sukzessiv kann der Personenkreis erweitert werden. An diesem Punkt kann über eine psycho- oder verhaltenstherapeutische Behandlung diskutiert werden, um Bewältigungsstrategien alter Verhaltens- und Vermeidungsmuster zu entwickeln.

Allen Disziplinen sollten die Alltagstauglichkeit und Dialogfähigkeit wichtigstes Ziel sein, um dem Patienten eine Selbständigkeit in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Deshalb sollten in der Therapie Lösungswege für die beschriebenen psychosozialen Belastungen gefunden werden; nur durch deren Veränderung ist eine dauerhafte Überwindung des Schweigens möglich. Die Einbindung in therapeutische Abläufe und Aufgaben unterstützt die kommunikative Öffnung. Zudem kann eine Kooperation mit dem Integrationsfachdienst (IFD) erforderlich sein, um berufliche Perspektiven zu finden und zu initiieren. Eine finanzielle Absicherung ist der erste Schritt, eine Selbständigkeit zu ermöglichen. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit mit dem Umfeld notwendig

Tipp

Der Mutismus betrifft nie nur allein den Schweiger: Die Menschen in seinem familiären und weiteren gesellschaftlichen System sind Faktoren, die die gesamtpersönliche Situation ermöglichen und eine Entwicklung durch fortlaufende Unterstützung verhindern. Nur eine gemeinsame Anstrengung und eine Veränderung auf allen Ebenen können zu einer Lösung der Problematik führen.

Fazit

Viele erwachsene Schweiger haben spät erfahren, dass sich ihr Problem Mutismus nennt. Oftmals werden Fehldiagnosen gestellt, jahrelange Odysseen von Behandlungen, Klinikaufenthalten und Beratungen beschrieben, ohne dass letztendlich eine Besserung der Symptomatik eintrat. Das Schweigen hat sich manifestiert, das Umfeld mit der Situation abgefunden, und der Patient ist gefangen in sich selbst. Aussicht auf Besserung – Fehlanzeige! Die Auswirkungen auf alle Lebensbereiche nehmen zu. Der Kreis der Personen, mit dem gesprochen wird, verkleinert sich immer mehr. Alle Versuche, einen Ausweg aus der Misere zu finden, scheitern meist bereits am ersten Schritt.

Die Anforderungen und Konsequenzen, die eine Veränderung mit sich bringen, sind mühsam und mit einem hohen körperlichen und psychischen Kraftaufwand verbunden. Dieser ist meist nicht allein zu bewältigen, denn bereits das Hilfesuchen erfordert Kommunikation. In Zeiten des Internets ist es jedoch viel leichter geworden, Hilfe zu finden und in Anspruch zu nehmen. Dank zahlreicher Webseiten und Foren finden Betroffene heute sowohl die Unterstützung anderer Betroffener als auch Therapeutennetzwerke, um professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Meist ist eine Kontaktaufnahme sogar per E-Mail möglich, sodass einem telefonischen Gespräch aus dem Weg gegangen werden kann. Therapeuten sollten das System betrachten, dass sich hinter dem Schweigen verbirgt. Auf allen beschriebenen psychosozialen Belastungsebenen sollten zum Ende der Behandlung Lösungswege gefunden worden sein. Erst wenn das Sprechen normal geworden ist, kann von einer Überwindung des Mutismus die Rede sein. Ziel ist es, das Sprechen in allen Situationen, in denen es erwartet wird, zu ermöglichen. Dann kann der Alltag eigenständig gemeistert werden.

Im Sonderheft II "Mutismus im (Jung-)Erwachsenenalter" findet ihr weitere Informationen und Lebenslinien von erwachsenen Mutisten.

Literatur:

  • Hartmann, B. (2007): Mutismus. Zur Theorie und Kasuistik des totalen und elektiven Mutismus. Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Schriften zur Sprachheilpädagogik. Band 1. Berlin: Spiess
  • Hartmann, B. (Hrsg.) (2010): Gesichter des Schweigens. Die Systemische Mutismus- Therapie/SYMUT als Therapiealternative. Idstein: Schulz-Kirchner
  • Hartmann, B. & Lange, M. (2010): Ratgeber: Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Idstein: Schulz-Kirchner
  • Krein, L. (2012): Angststörungen als Ursache des selektiven Mutismus? Mutismus.de 4/8, 4-15
  • Melliger, S.: Wenn fremde Anwesenheit verstummen lässt… - Leben mit selektivem Mutismus. Books on Demand, Norderstedt, 2012
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