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Der selektive Mutismus ist ein Schweigen bei erhaltener Sprechfähigkeit, das in bestimmten Situationen (z.B. Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz) oder gegenüber stressbesetzten Personen (Erzieherinnen, Lehrkräfte, Vorgesetzte, Fremde) auftritt. Eine neurologische Störung der Sprachzentren, Nervenbahnen oder Sprechwerkzeuge liegt nicht vor.
Die ICD-10 klassifiziert den selektiven Mutismus unter „F94 Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ und nennt die Diagnose „F94.0 elektiver Mutismus“. In der Vorabversion der ICD-11 heißt es: 6B06 Selective mutism (2022). Das DSM-5 zählt den selektiven Mutismus (F94.0) seit 2013 zu den Angststörungen. Es wird davon ausgegangen, dass die ICD-11 ebenfalls eine Neuzuordnung als Angstverhalten vornehmen wird.
Während der selektive Mutismus eine Gegensätzlichkeit (Schweigen vs. Reden) aufweist und sich nur auf definierbare Situationen und Personen bezieht, schweigt die betroffene Person beim totalen Mutismus gegenüber allen Menschen, d.h. immer. Einen Unterschied zwischen dem elektiven und dem selektiven Mutismus gibt es übrigens nicht.
Der akinetische Mutismus (auch posttraumatischer Mutismus) unterliegt einer alleinigen hirnorganischen Verursachung und geht mit gedeckten oder offenen Schädelhirntraumata bzw. mit Hemmungsphänomenen der zentralen Sprechfunktionen einher. Hier zeigt sich das Schweigen aufgrund fehlender Sprechbewegungen (Akinesie) in seiner totalen Form.
Kinder mit Mutismus schweigen sehr häufig außerhalb der Familie, d.h. in jenen Situationen, in denen sie einer Gruppe ausgesetzt sind und nicht mit den engsten Familienangehörigen interagieren. Ihre Mimik ist starr, „eingefroren“, der Habitus der eines ängstlichen Menschen. Weitere lautsprachliche Äußerungen wie phonisches Lachen, Husten, Singen oder Weinen sind in der Regel nicht möglich, wirken wie blockiert. Dagegen verhalten sich diese Kinder im vertrauten Kreis der Kernfamilie völlig offen, d.h. sprechend, motorisch ungehemmt, sogar häufig manipulativ. Weitere Phänomene neben dem Schweigen können sein: besonderes Essverhalten, Verweigerung der körperlichen Reinigung nach Toilettengängen, keine Zunahme von Getränken oder Speisen vor der Gruppe. Der selektive Mutismus kann auch gegenüber den weiteren Verwandten (häufig: Großeltern) auftreten oder in der umgekehrten Form: zu Hause wird geschwiegen und außerhalb der Familie gesprochen (eher selten).
Da mit dem Schweigen das wichtigste soziale Instrument des Menschen, nämlich das Sprechen, im Kontakt zu Gleichaltrigen fehlt, unterliegen mutistische Kinder von klein auf dem Risiko der sozialen Isolation. Was im Kindergarten- oder Grundschulalter noch nicht spürbar ist, erweist sich jedoch ab der Pubertät und dem Jugendalter als Vereinsamungsfalle. Darüber hinaus sind berufliche Perspektiven reduziert, Weiterentwicklungen durch eine Berufsausübung oder Partnerschaft nicht möglich. Eine selbstständige Lebensführung ist gefährdet.
Durch die fehlende Selbstständigkeit von mutistischen Kindern werden die Eltern oder Elternteile (häufig die Mutter) als permanente Hilfspersonen eingesetzt. Die Geschwisterfolge wird dominiert, die Mutter symbiotisch an sich gebunden. Die Väter agieren oft in einer schwachen Elternrolle, weil die Mutter-Kind-Symbiose eine dritte Person nicht zulässt. Eheliche Schwierigkeiten sind häufig.
Neben der Gefahr der sozialen Isolation können Nachteile für den Wissenserwerb auftreten, da bei Verständnisproblemen nicht nachgefragt oder ein Kind aus der Klasse angerufen wird. Allerdings sind auch gegenteilige Effekte mit ausgezeichneten Leistungen zu beobachten. Eine größere Gefahr ist der Schulabbruch aufgrund von psychischer Überlastung. Der schulische Nachteilsausgleich, der das Mündliche nicht benotet, wird kontrovers diskutiert, da er Gewöhnungseffekte ermöglicht, die dazu führen, dass der Betroffene bis zum Schulabschluss schweigt (s. auch Ausgabe Nr. 22 der Fachzeitschrift „Mutismus.de“, Sonderheft V: Mutismus und Schule).
Der Mutismus im Erwachsenenalter ohne Vorgeschichte zeigt sich häufig total, da hier das Schweigen entweder im Rahmen von schweren endogenen Depressionen oder Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis auftritt. Es kommen aber auch vereinzelt traumatisierende Erlebnisse in Verbindung mit starken Affekten wie Schock in Frage. Liegt bereits im Kindesalter ein selektiver Mutismus vor, so ist das Schweigen im Erwachsenenalter eine dramatische Verlaufsvariante des kindlichen Verhaltens.
Während man früher bei Mutismus von einer Traumafolgestörung oder einem Beziehungskonflikt innerhalb der Familie ausging, der verschwiegen werden muss, stehen heute drei organische Erklärungsmodelle im Vordergrund.
Mutismus und Genetik: Risikofaktoren wie Gehemmtheit, Angst oder Depression treten familiengehäuft auf.
Mutismus und Hyperfunktion des Angstzentrums: Der Mandelkern im limbischen System befindet sich in einer permanenten Alarmbereitschaft.
Mutismus und Neurobiologie: Es kommt zu Dysbalancen der Neurotransmitter im Hirnstoffwechsel.
Psychodynamische Interpretationen zählen heute nicht mehr zu den bevorzugten Ansätzen. Sollten nach der Überwindung des Schweigens zusätzliche psychische Störungsbilder oder Belastungsphänomene deutlich werden, so ist eine nachfolgende Psychotherapie indiziert.
Die Behandlung des selektiven Mutismus hat im Kindesalter eine ausgesprochen gute Prognose. Der Mutismus gehört zu den überwindbaren Störungsbildern. Als Disziplinen kommen die Psychiatrie, die Psychologie und die Sprachtherapie/Logopädie in Frage, die sich interdisziplinär ergänzen.
Die Diagnose Mutismus wird normalerweise vom Kinderarzt oder einem Kinderpsychologen erstellt. Da selbst unter Ärzten die Störung Mutismus immer noch relativ unbekannt ist, kommt es nicht selten dazu, dass Kinderärzte erst durch die Eltern über den Mutismus informiert werden. Für Sprachtherapeuten gehört der Mutismus schon seit den 90ziger Jahren zu den Fachdiziplinien. Meistens sind sie es, die mit Fachkenntnissen und viel Erfahrung aufwarten können.
Durch eine ausführliche Befragung zum Sprechverhaltenen und der Entwicklung der Betroffenen lässt sich der Mutismus in der Regel gut diagnostizieren. Dabei kommen zum Beispiel Evalutionsbogen, Anamnesebogen, Mutismus-Test oder die Frankfurter Skala zur Erfassung des selektiven Mutismus zum Einsatz.
Ein Arzt, auch der Hausarzt, stellt nach der Diagnosestellung die Heilmittelverordnung für den Sprachtherapeuten aus. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse.
Eine psychiatrische Behandlung erfolgt teil- oder vollstationär in einer Klinik. Dort kommen psychotherapeutische Maßnahmen zur Angstdesensibilisierung und auch Medicotherapien zum Einsatz. Der Einsatz von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) betont das neurobiologische Verständnis von Angst. SSRIs heben den Serotoninspiegel durch eine Hemmung der Wiederaufnahme an, sodass es zu einer Anreichung dieses Neurotransmitters im synaptischen Spalt kommt.
Im Kindesalter steht die spieltherapeutische Analyse von Konfliktsituationen und Angstinhalten im Vordergrund. Ab dem Jugendalter werden vermehrt verhaltenstherapeutische Konzeptionen eingesetzt. Wichtig ist die psychologische (nonverbale) Diagnostik zu den Themen Intelligenz, Angst, Depression und Zwang.
Die Behandlung in einer sprachtherapeutischen oder logopädischen Praxis rückt heute zunehmend in den Fokus. Dies lässt sich auf zwei Faktoren zurückführen. Zum einen ist der Mutismus eine angstbedingte Kommunikationsstörung, zum anderen können Sprach- und Sprechstörungen, die im Kindesalter häufig mit dem Mutismus verbunden sind, zusätzlich oder parallel behandelt werden. Sprachtherapeutische Behandlungsformen kombinieren logopädische und psychotherapeutische Maßnahmen und bauen in kleinen Schritten ein angstarmes bzw. angstfreies Sprechen auf. Elternberatungen und interdisziplinäre Kooperationen mit weiteren Behandlungsdisziplinen sowie mit den jeweiligen Institutionen des Kindes bzw. Jugendlichen (Kindergarten und Schule) runden diese Konzeptionen ab.
Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung des Mutismus gegenüber der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) kann durch sechs Merkmale im Verhalten der Betroffenen vorgenommen werden (Hartmann & Lange 2021):
Angststörung
Während die Autismus-Spektrum-Störung eine tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörung darstellt, wird der Mutismus seit der Erstveröffentlichung des DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) unter die Angststörungen subsumiert.
Überwindbarkeit
Menschen mit ASS bleiben ein Leben lang mit der Grundbehinderung verbunden. Dagegen gehört der Mutismus zu den überwindbaren Störungsbildern und verfügt im Kindesalter über eine ausgesprochen gute Prognose.
Konstanz
Menschen mit ASS verhalten sich gleichbleibend zurückgezogen, kontaktarm und abwehrend gegenüber Wahrnehmungsanreizen des Umfeldes und bevorzugen selbststimulierende visuelle und auditive Stereotypien, während Mutisten zwei völlig unterschiedliche "Gesichter" zu haben scheinen: hier der introvertierte, gehemmte Schweiger – dort der gelöste, anhängliche Lebhafte.
Emotionalität
Menschen mit ASS zeigen sich emotional meistens eher unterkühlt, können nur schwer einen gefühlsmäßigen Kontakt selbst zu ihren Eltern und Geschwistern aufbauen, machen sich schon als Säugling beim Hochheben durch die Mutter körperlich steif. Mutisten sind dagegen in den Situationen, in denen sie sich ungehemmt verhalten und lebhaft sprechen, überaus emotional, suchen geradezu den äußerst engen Kontakt zu einem Elternteil (häufige Mutter-Kind-Symbiose).
Sprachentwicklung
In schweren Fällen (Frühkindlicher Autismus bzw. Low Functioning Autism/LFA) entwickeln Menschen mit ASS aufgrund neurolinguistischer und neuromotorischer Störungen nur eine redundante, auf den Ebenen Artikulation, Prosodie, Grammatik-Morphologie, Semantik-Lexikon und pragmatisch-kommunikative Kompetenz auffällig abweichende Sprache. Die Schriftsprache bleibt ihnen häufig verschlossen oder ist allein über die „Gestützte Kommunikation“ (Facilitated Communication/FC) anhand von Buchstabentafeln oder Buchstabentastaturen anzubahnen. Zusätzlich werden in die Gestützte Kommunikation auch Methoden und Ansätze der „Unterstützten Kommunikation“ (Augmentative and Alternative Communication/AAC) mit Einsatz von Körpersprache und Gebärden integriert. Mutisten verfügen dagegen über eine mindestens altersentsprechende Entwicklung der (Schrift-)Sprache, benötigen also keine speziellen Konzeptionen einer Kommunikationsdidaktik. In vielen Fällen ist der schriftliche Ausdruck sogar überdurchschnittlich gut, da er aufgrund des situativen Schweigens (z.B. in der Schule) als das Kompensationsmittel eingesetzt wird.
Verhaltensstereotypien
Die Autismus-Spektrum-Störung wird durch die Wiederholung von Verhaltensmustern und Bewegungsabläufen flankiert, der Mutismus dagegen nicht. Hier fehlen wiederkehrende motorische Autostimulationen z.B. durch Finger-, Hand- und Ganzkörperbewegungen, Handlungsrituale sowie selbstisolierende Sonderinteressen (Auswendiglernen von Fahrplänen etc.).
Weitere ausführliche Informationen zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung von Mutismus und der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) können dem Heft 24 der von der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V. herausgegebenen Fachzeitschrift „Mutismus.de“ entnommen werden.
Auf der 11. Mutismus-Tagung der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V. am 8. Juni 2013 wurden die "Stuttgarter Rahmenempfehlungen zur Mutismus-Therapie", abgekürzt SRMT, vorgestellt und verabschiedet. "Die SRMT ermöglichen es Eltern, Angehörigen und den Betroffenen selbst, durchgeführte oder bestehende Therapieprozesse zu bewerten und jahrelang andauernde stagnierende Behandlungen kritisch zu hinterfragen. Die SRMT stehen im Einklang mit den Ergebnissen der aktuellen Angst- und Depressionsforschung, wonach traumatische Erlebnisse und Erziehungsfehler nicht mehr als primäre Verursachung angenommen werden".
Die Anamnesen mutistischer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener verweisen - immer noch - auf Jahre zahlreicher Therapieversuche und monatelange Klinikaufenthalte, in denen noch nicht einmal im therapeutischen Setting gesprochen wird und/oder eine Transferleistung in den Kontext Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Studium ausgeblieben ist. Vor dem Hintergrund, dass die Jahre der Kindheit und Jugend wertvolle Entwicklungszeiten darstellen, in denen psychosoziale Basalerfahrungen gesammelt und Zukunftsperspektiven generiert werden, ist es für die Betroffenen von Mutismus und ihre Angehörigen essenziell, dass die gute Prognose im Kindesalter therapeutisch genutzt wird, um eine Aufrechterhaltung des Schweigens bis zum Jugend- und Erwachsenenalter und damit eine Mutismusbiografie zu verhindern.
Im Heft 10 unserer Fachzeitschrift finden Sie weiterführende Informationen zu den Stuttgarter Rahmenempfehlungen zur Mutismus-Therapie.
Sie können die SRMT in 10 Sprachen herunterladen, klicken sie dazu auf die jeweilige Sprachversion.
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Unser gemeinnütziger Partner betterplace.org hat genau für solche Aktionen ein hilfreiches Online-Tool. Dort können Deine Freunde, Kunden, Gäste ganz einfach spenden und das Geld kommt ganz sicher bei der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V. an.
Jährlich lädt unser Verein zum Event Mutismus-Tagung Logopäden, Psychologen, Ärzte, Pädagogen, Betroffene & Angehörige sowie alle Interessierten zum Erfahrungsaustausch ein. Am Vormittag erwarten euch spannende Vorträge namhafter Referenten. Die Diskussions- und Fragerunden am Nachmittag sind sehr beliebt und runden den Tag ab. Teilnehmer aus Fachbereichen erhalten Weiterbildungspunkte. Es gibt wohl kaum eine Tagung zum Thema Mutismus, bei der so viele verschiedene Fachrichtungen miteinander kommunizieren. Bisher haben weit über 1.000 Interessenten an unseren Mutismus-Tagungen in Köln, München, Hamburg, Berlin und Online teilgenommen.
Halbjährlich geben wir seit dem 02.05.2009 „Mutismus.de“, Fachzeitschrift für Mutismus Therapie, Mutismus Forschung und Selbsthilfe heraus. "Mutismus.de" versteht sich als Fachzeitschrift für Mutismus Therapie, Mutismus Forschung und Selbsthilfe und ist die erste und einzige Fachzeitschrift ihrer Art, zumindest in Deutschland, wahrscheinlich auch in Europa. Die Zeitschrift wird in Kooperation mit dem
Schulz Kirchner Verlag von einer ehrenamtlich geführten Redaktion herausgegeben.
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