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Fachzeitschrift

Selektiver Mutismus in der Arztpraxis

Ein Leitfaden

Kleiner Junge mit Teddybären auf dem Schoß, der untersucht wird
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Hilfe im Praxisalltag:

Ein Leitfaden für mehr Sicherheit und Verständnis im Arzt-Patienten-Gespräch

Seit Jahren erleben wir, wie belastend Arztbesuche für Betroffene sein können, während Ärztinnen und Ärzte oft Unsicherheit im Umgang mit diesem Störungsbild beschreiben. Aus diesem Grund entstand die Idee für einen praxisnahen Leitfaden.

In enger Zusammenarbeit mit der Autorin Pia Zucht und der Universität Erfurt sowie Expert*innen aus Pädiatrie, Allgemein- und Zahnmedizin, wurden Bedarfsanalysen durchgeführt. Diese wertvollen Perspektiven von Betroffenen, Angehörigen und Therapeut*innen konnten wir so in den Leitfaden für Ärzte einfließen lassen.

Unser Ziel ist es, mit der Broschüre Ärztinnen und Ärzten hilfreiche Werkzeuge an die Hand zu geben, um die durch selektiven Mutismus entstehenden Barrieren zu überwinden. Der Leitfaden bietet sowohl den theoretischen Hintergrund als auch praktische Tipps und Anregungen, um den Umgang mit Betroffenen in Ihrer Praxis zu erleichtern.

Ein besonderer Dank gilt den Betroffenen und ihren Familien, deren Offenheit und Erfahrungen maßgeblich zur Erstellung dieses Leitfadens beigetragen haben.

Auf dieser Website finden Sie einige Inhalte aus der Broschüre. Sie können den Leitfaden sowohl digital als pdf-Datei downloaden als auch die Print-Variante bestellen.

Über eine kleine Spende, die wir für den Versand und Nachdruck der Broschüre nutzen, würden wir uns sehr freuen.

Cover Abbildungen des Broschüre aus
"Schweigen ist der sicherste Weg für den, der seiner selbst unsicher ist"

Francois de La Rocefoucauld

Erscheinungsbild und Leitsymptomatik

Bei selektivem Mutismus besteht eine ausgeprägte Körpersymptomatik aufgrund eines erhöhten Stresspegels. Die Intensität der Reaktion ist individuell verschieden. Häufig zu beobachten sind bei Ansprache durch bindungsferne Personen in unterschiedlichem Ausprägungsgrad:

Physisch

  • Meiden des Blickkontakts
  • Einfrieren/Schockstarre
  • Verkrampfte Hände
  • Blockierte/stockende Atmung
  • Erhöhter bis sehr hoher Körpertonus
  • Starre, ausdruckslose Mimik
  • Verstecken hinter Masken, Haaren, Kleidung
  • Klein- und Unsichtbarmachen (Kinder verstecken sich teilweise hinter Eltern oder Gegenständen)
  • Miktion/Defäkation, Nahrungsaufnahme und Trinken sind in der Öffentlichkeit ggf. nicht umsetzbar
Symbolfoto von einem Mädchen im Freezing-Zustand

Zusätzliche Symptome

  • Das Kind zeigt teils autoritäres Verhalten und redet übermäßig viel (Nachholbedarf).
  • Das Kind hat Schwierigkeiten, Interaktionen zu initiieren (z. B. Begrüßung/Abschied/Dank/Fragen).
  • Übergangssituationen (Wechsel von „vertraut“ zu „fremd“) stellen besondere Herausforderungen dar.
  • In der Schule wird das Nicht-Sprechen oft mit guten schriftlichen Leistungen kompensiert, teils ist Perfektionismus beobachtbar.
  • Das Kind scheint die es umgebende Welt im Vergleich zu den Altersgenossen sorgfältiger zu beobachten und wahrzunehmen (auch im Hinblick auf Stimmungen und Emotionen), es hat aber oft Schwierigkeiten, eigene Gefühle auszudrücken.
  • Das Kind zeigt häufig keine/kaum Emotionen (es weint z. B. nicht, wenn es sich wehtut).
  • Das Kind zeigt nonverbal verzögerte Reaktionen, es fällt ihm sehr schwer, Entscheidungen zu treffen.

(Katz-Bernstein, 2019)

Gehäuft beobachtbare Komorbiditäten

Nur sehr selten tritt selektiver Mutismus isoliert auf, fast immer bestehen Komorbiditäten. Zu beachten ist, was das klinische Bild dominiert. Nach Florineth-Baatsch et al. (2024) sind häufig Enuresis, Enkopresis, Schlafstörungen, soziale Ängstlichkeit, Essstörungen, depressive Symptome und Regulationsstörungen der Verhaltenskontrolle zu beobachten.

 

Weitere mögliche Auffälligkeiten

  • Zwänge oder zwangsähnliches Verhalten
  • Gesteigerte Sensibilität bis Hochsensibilität
  • Auffälligkeiten im Bereich des Bindungsmusters
  • Persistierende frühkindliche Reflexe

 

Ausschluss- und Differentialdiagnosen

Folgende Störungen sind vom selektiven Mutismus abzugrenzen, können jedoch komorbid auftreten:

  • Passagerer (selektiver) Mutismus als Teil einer Trennungsangst bei jungen Kindern
  • Hördefizite – damit verbunden Formen des partiellen oder totalen Schweigens
  • Sprachentwicklungsstörungen
  • Sprechangst
  • Soziale Phobie
  • Störungen der kognitiven Entwicklung
  • Auditive Agnosie

 

(Florineth-Baatsch et al., 2024)

Abgrenzung Schüchternheit

Mutismus weist eine andere Konsequenz des Schweigens auf als Schüchternheit. Diese äußert sich durch sympathische Aktivierung und löst sich nach etwa 30 Minuten, sodass typentsprechend mehr oder weniger gesprochen werden kann. Mutismus bleibt bestehen, das Schweigen löst sich nicht ohne Weiteres auf, zudem besteht häufig die automatische Stress- und Schutzfunktion des Erstarrens, die auch Mimik und Gestik beeinträchtigt oder verhindert.


(von Frankenberg & Schröter, 2021)

 

Bei Verdacht auf Mutismus: Nutzen Sie beispielsweise die Screeningbögen der TU Dortmund (DortMuS-Eltern, - Schule, - Kita).

Screeningbögen der TU Dortmund

Hochsensibilität und Mutismus

 

Die aktuelle Forschung beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen selektivem Mutismus und erhöhter sensorischer Reizbarkeit. Bei Personen mit Mutismus ist die Amygdala inadäquat hoch aktiviert, daher ist es günstig, eine etwas ruhigere Atmosphäre zu schaffen, um einer Überstimulation vorzubeugen.


Praktische Tipps dazu finden Sie in der Broschüre unter den Punkten „Zeit nehmen“ und „Positive Haltung“ (Kapitel „Umgang in der Arztpraxis“) auf S. 22 und 23.

Interviews mit Eltern von Kindern mit selektiven Mutismus

Hintergrund: Selektiver Mutismus stellt Betroffene, Angehörige und das Umfeld regelmäßig vor große Herausforderungen. Notwendige Termine, wie Arztbesuche, können erheblichen Stress verursachen. Oft sind die Kinder bereits Wochen vor dem Termin ängstlich und besorgt, und auch die Angehörigen empfinden häufig Anspannung in Bezug auf den Arztbesuch. Um gezielt helfen und ansetzen zu können, wurden problemzentrierte Interviews mit Eltern von Kindern mit selektivem Mutismus durchgeführt, und die gewonnenen Erfahrungen wurden dokumentiert. Diese Aussagen stammen aus der Bachelorarbeit der Studierenden Frau Gleißert. 

Im Folgenden präsentieren wir Ihnen einige dieser Aussagen, die zur Entwicklung des Leitfadens:  “Selektiver Mutismus in der Arztpraxis” beigetragen haben.

Positive Erfahrung

Beim Arzt haben sie gesagt, dass jetzt nicht bei diesem einen Termin alles klappen muss, wir können das auch mehrmals machen oder ein Video aufnehmen. Sie waren einfühlsam und entgegenkommend, das hilft natürlich.

Negative Erfahrung

Ich konnte genau in ihren Augen sehen, dass sie wirklich verzweifelt ist und das habe ich auch versucht der Assistentin zu erklären, die die Situation nicht so einschätzen konnte.

Das hat geholfen

Natürlich körperliche Nähe. Sie saß nicht alleine auf dem Stuhl. Ich liege auf dem Stuhl und sie liegt auf mir.

Das wäre hilfreich

Einfach verständnisvoll zu sein, geduldig und auch zuversichtlich, wir finden einen Weg, um flexibel zu sein, mehrere Angebote.

Positive Erfahrung

Wo sie noch nicht geredet hat und ich die Puppen immer mitgebracht habe, …. die Puppe hat richtig Quatsch gemacht. Zum Glück hat auch da die Ärztin mitgespielt. Sie hat der Puppe einen Zahn geklebt und solche Sachen….

Negative Erfahrung

Wenn du nicht willst, dann kann ich das nicht untersuchen”, so wirklich so die Schuld auf das Kind geben, dass es jetzt vielleicht krank ist, weil sie es nicht untersuchen kann, kann ihr nicht helfen. Ja wenn du nicht mitmachst, wissen wir nicht, wie deine Ohren sind. Vielleicht werden dann deine Ohren krank' und so. Also wirklich grenzwertig.

Das hat geholfen

Am Anfang war es mir immer wichtig, dass wir immer bei der gleichen Ärztin sind.

Das wäre hilfreich

Am besten ist, wenn man sie eher nicht so fokussiert und sie nicht so in den Mittelpunkt stellt, dass sie jetzt sprechen, reagieren muss. Sie macht schon gerne mit, wenn sie dann was malen oder zeigen soll, dass sie das verstanden hat.

Positive Erfahrung

Einfach wenn sie das Gefühl hat, frei entscheiden zu können. Also, dass sie nicht muss und dass sie Nein sagen darf, also zeigen kann, dass sie nicht möchte und dass das akzeptiert wird. Also ein Gegenüber, dass nicht verurteilt und geduldig ist.

Negative Erfahrung

Ein Extra-Stress über dem Stress, den man vielleicht als Elternteil hat, wenn man mit dem Kind zum Arzt geht.

Das hat geholfen

Wenn der Arzt dann auch sagt: ,Sobald ich eine Zeichen von dir habe oder so, höre ich auf'. Also dieses Vertrauen und weniger der Druck.

Das wäre hilfreich

Wenn ein Arzt im Voraus schon weiß, dass das Kind genau in dem Punkt Probleme hat, dann kann der Arzt auch sich selber auch ein bisschen entspannen und sagen okay, ich muss hier nicht unbedingt eine Reaktion von dem Kind bekommen.

Positive Erfahrung

Wenn sie merkt, dass jemand ganz empathisch ist, dann geht das Sprechen auch viel schneller und manchmal sogar gleich.

Negative Erfahrung

J. guckt dann ja oft, sie hat auch so viele Haare, wo sie dann oft so macht, dass sie sich so ein bisschen versteckt (macht die Haare vor die Augen und dreht den Kopf weg).

Das hat geholfen

Dass sie mich als Sprachrohr hatte. Die meisten Ärzte wollen das ja nicht, weil das Kind doch auch mit ihnen reden muss, aber das ist in solchen Momenten schon auch hilfreich.

Das wäre hilfreich

Wenn der Arzt erstmal was von sich erzählt oder das Zimmer zeigt, ohne dass das Kind das Gefühl hat, agieren zu müssen. Sondern wichtig ist, dass mutistische Kinder einfach da sein dürfen, ohne dass etwas von ihnen erwartet wird.

Negative Erfahrung

Beim Zahnarzt ist es ganz ganz schwierig. Da hatten wir eine Untersuchung und sie hat den Mund nicht aufgemacht. Überhaupt nicht reagiert und hatte Angst. Ging gar nicht. Wir mussten die Behandlung abbrechen, weil es nichts gebracht hat.

Das wäre hilfreich

Das sind nicht nur die Ärzte, die Skills brauchen, auch die Eltern brauchen unheimlich viele Skills, Kinder darauf vorzubereiten, Kinder zu unterstützen, es zu schaffen, dass habe ich eben auch nicht so drauf gehabt und hatte immer so diese Anspannung und die Hoffnung, dass es einfach jetzt mal funktioniert.