Definition | Merkmale | Ursachen | FAQ
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Menschen mit Selektivem Mutismus erleben jeden Tag, dass sie in einigen Situationen und mit einigen Menschen oder bei einigen Aktivitäten nicht sprechen können, obwohl sie es möchten. Das gilt ganz besonders für Situationen, in denen Sprechen erwartet wird: Im Kindergarten, in der Schule, beim Zahnarzt, im Sportverein, auf Familienfesten, auf dem Spielplatz, auf Kindergeburtstagen, im Restaurant, wenn jemand einen grüßt, wenn man sich bedanken oder entschuldigen will. Die Liste hat kein Ende. Wir sind Menschen und uns ist es angeboren, immerzu und in allen Lebenslagen über das Sprechen miteinander Beziehungen einzugehen, in Kontakt zu treten.
Der selektive Mutismus aber macht das unmöglich. Er bewirkt eine gravierende Sprechblockade und kann dabei nicht nur die verbale, sondern auch die nonverbale Kommunikation erschweren: Im Kopf hat der Drittklässler die Antwort sofort parat, wenn die Lehrperson fragt, was 7 mal 7 gibt. Aber die Hand, um sich zu melden, liegt betonschwer auf dem Tisch, der Blick sinkt zu Boden, das Gesicht sieht aus wie eine gefühlsentleerte Maske, die Lippen fühlen sich an wie zugenäht. Die Lehrperson wartet kurz und lässt dann ein anderes Kind die Frage beantworten. Wer kein Wort herausbekommt, lernt, ohne Worte zu kommunizieren. Und so kann das Kind mit selektivem Mutismus die Zahl 49 vielleicht aufschreiben und dem Lehrer zeigen. Vielleicht geht aber auch das nicht und das Kind sitzt stumm und starr am Pult, tagein, tagaus, jahrelang. Zuhause aber ist dasselbe Kind in der Regel eine Plaudertasche. Das Universum dieses Kindes zerfällt in zwei Welten – in einer kann es sprechen, in der anderen nicht. Eine altersgemäße soziale, emotionale und akademische Entwicklung ist für diese Kinder gefährdet. Wer im Dauerstress ist, lernt nicht gut, wer nichts sagen kann, bleibt auf seinen Lernfragen hocken, soziales Lernen in Gruppen ist oft nicht möglich, Freundschaften können nicht geknüpft oder gehalten werden. Spätestens im Jugendalter sind andere Kinder immer weniger tolerant und binden das schweigende Kind nicht mehr so gut in die Freundesgruppe ein oder mobben es gar.
Der selektive Mutismus ist in der Medizin als Angststörung eingeordnet (ICD-11, DSM-V), die sich im dauerhaften Unvermögen zeigt, in manchen Situationen zu sprechen, in denen Sprechen erwartet wird, während es in anderen gelingt. Dieses Verhalten muss länger als vier Wochen bestehen. Nicht einbezogen wird der erste Monat z.B. nach dem Start im Kindergarten oder in der Schule, weil viele Kinder Zeit brauchen, um aus ihrem Schneckenhaus zu kommen. Bei Menschen mit selektivem Mutismus besteht eine Beeinträchtigung in Ausbildung, Beruf oder sozialer Kommunikation. Die Unfähigkeit zu sprechen, beruht dabei nicht auf fehlenden Sprachkenntnissen oder auf starkem Unwohlsein, die Sprache zu sprechen. Das schweigende Verhalten ist auch nicht besser erklärbar durch eine Kommunikationsstörung (z.B. Stottern) und tritt nicht ausschließlich in Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrum-Störung, Schizophrenie oder psychotischen Störungen auf.
Der selektive Mutismus beginnt in der Regel sehr früh – im Alter zwischen zwei und fünf Jahren und gilt deshalb als Störung des Kindes- und Jugendalters. Die Symptome werden oft beim Kindergartenstart offensichtlich. Betroffen ist je nach Studie zwischen etwa ein Prozent der Vor- und Grundschulkinder. Mädchen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Jungen, was allgemein bei Angststörungen zu beobachten ist. Das Risiko, selektiven Mutismus zu entwickeln, ist für mehrsprachige Kinder bis zu viermal höher. Jeder Mensch, der an Selektivem Mutismus leidet, erlebt ein hochindividuelles Muster, wo und mit wem das Sprechen gelingt und wann die Sprechblockade auftaucht. Ohne Therapie dauert der selektive Mutismus meist Jahre an. Danach kann sich das schweigende Verhalten auflösen, aber das Angstproblem bleibt in der Regel bestehen. Die Betroffenen kommunizieren weiterhin nicht frei und bleiben unter ihren Möglichkeiten. Auch können sich zusätzliche Angst- und Kommunikationsprobleme entwickeln, Schulverweigerung kann auftauchen, es kommt zu schlechten Schul- und Arbeitsleistungen sowie einer höheren Rate an zusätzlichen psychiatrischen Störungen. Bekommt ein Kind keine therapeutische Hilfe, kann der selektive Mutismus auch bei Jugendlichen und Erwachsenen weiter bestehen. Während aber junge Kinder, die nicht sprechen, in der Regel als sehr schüchtern eingeschätzt werden und noch viel Verständnis bekommen, wird älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vorgeworfen, sie schwiegen absichtlich und wollten ihr Umfeld manipulieren und könnten sprechen, wenn sie sich nur mehr anstrengen würden, was nicht stimmt.
Vor allem ein unbehandelter oder falsch behandelter selektiver Mutismus kann in einen totalen Mutismus kippen. Ein Mensch, der an totalem Mutismus leidet, kann mit niemanden und in keiner Situation sprechen. Es kann Betroffenen unmöglich sein, ihre Stimme z.B. beim Lachen oder Weinen hören zu lassen oder Laute zu machen. Definiert ist der totale Mutismus als eine nach vollzogenem Spracherwerb erfolgende völlige Hemmung der Lautsprache bei erhaltenem Hör- und Sprechvermögen. Das heißt, es liegen – ebenso wie beim selektiven Mutismus - keine organischen Störungen vor (z.B. im Kehlkopf, den Stimmbändern, Muskel- oder Nervenbahnen oder in den Sprachzentren des Gehirns). Eine Ursache für dieses tiefgreifende und umfassende Schweigen ist nicht bekannt. Eine Hypothese ist, dass eine sehr starke Überforderungssituation oder eine Reihe von langanhaltenden Überforderungssituationen einen Menschen mit selektivem Mutismus in den totalen Mutismus hineingeraten lassen könnte. Der totale Mutismus kann Kinder, Jugendliche und Erwachsene betreffen. Es ist nicht bekannt, wie häufig er vorkommt.
Ebenso wie der selektive Mutismus ist der totale Mutismus therapierbar und kann überwunden werden. Die Therapieform muss spezifisch für den Mutismus sein. Evidenz liegt in Studien insbesondere für verhaltenstherapeutische Interventionen vor. Es sollte keinesfalls abgewartet werden, ob sich das Schweigen von selbst gibt, sondern sofort eine Therapie durch eine auf den Mutismus spezialisierte Fachperson beginnen – in der Regel sind dies SprachtherapeutInnen oder Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen. In der Therapie wird idealerweise interdisziplinär gearbeitet und das gesamte Umfeld einbezogen. Eltern, Lehrpersonen und Fachpersonen können lernen, Betroffene im Alltag dabei zu unterstützen, das Sprechen in kleinen, systematischen Schritten zu wagen.
Dass ein Mensch in manchen Situationen, in denen Sprechen erwartet wird nicht sprechen kann, obwohl es in anderen geht, ist kein neues Phänomen. Erstmals wurde der selektive Mutismus in der wissenschaftlichen Literatur im Jahr 1877 vom deutschen Arzt Adolph Kussmaul als „Aphrasia voluntaria“ - freiwilllige Sprachlosigkeit beschrieben. Der Schweizer Kinderarzt Moritz Tramer taufte das Phänomen dann siebenundfünfzig Jahre später, 1934, um in „elektiven“ Mutismus. Er bezeichnete den “elektiven" Mutismus als “frühestinfantilen Abwehrreflex”. Es dauerte weitere 60 Jahre, bis im Jahr 1994 im amerikanischen Diagnosemanual DSM-V der Begriff „selektiver“ Mutismus formuliert wurde. Dieser Begriff findet sich seit 2022 auch im Diagnosemanual ICD-11 der WHO, vorher war vom „elektivem Mutismus“ die Rede. Ärzte und Ärztinnen folgen häufig noch der Tradition der medizinischen Literatur und verwenden im deutschsprachigen Raum den Terminus "elektiver Mutismus". Auch wenn mit den Worten „elektiv“ und „selektiv“ im Grunde dasselbe gemeint ist, so erleben viele Fachpersonen und Betroffene es doch als problematisch, dass in diesen Begriffen mitschwingt, das Schweigen sei frei gewählt bzw. es werde aktiv selektiert, mit wem das Sprechen gelinge. Beides trifft nicht zu, daher wird unter Betroffenen und Fachpersonen im englischsprachigen Raum ein erneuter Begriffswandel in einen „situationsbedingten Mutismus“ diskutiert.
Quelle:
Sabine Laerum, Zertifizierte Mutismustherapeutin (PCIT-SM), Patholinguistin, Logopädin, M.A. Linguistik und Rhetorik www.mutig-sprechen.com
Das Wort Mutismus wurde vom lateinischen "mutus" abgeleitet, was so viel wie "stumm" bedeutet. Genau genommen ist der Begriff "Mutismus" somit eigentlich falsch, denn Menschen, die unter Mutismus leiden, sind ja nicht stumm im Sinne von "nicht fähig zu sprechen". Wenn man einmal vom akinetische Mutismus (auch posttraumatischen Mutismus) absieht, können eigentlich alle Menschen, die mutistisch sind, per mündlicher Sprache, d.h. Sprechen, kommunizieren. Sie tun es aber aufgrund einer starken Angst nicht.
Gerade für die Eltern (s)elektiv mutistischer Kinder ist das eines der größten Probleme, denn meist sprechen diese Kinder ja in der vertrauten heimischen Umgebung ungehemmt mit allen Mitgliedern der Kernfamilie. Dass diese Kinder aber im Kindergarten oder in der Schule beharrlich schweigen, wenn sie von der Kindergärtnerin, einem Lehrer oder dem Hausmeister angesprochen werden, wird von den eigenen Eltern leider oft erst viel zu spät erkannt. Deswegen unsere Empfehlung: Erkundigen Sie sich bitte immer detailliert danach, ob sich Ihr Kind auch im Kindergarten bzw. in der Schule kommunikativ normal verhält. Zeigt es dagegen eine oder mehrere der folgenden Auffälligkeiten, so ist eine erhöhte Aufmerksamkeit angebracht:
Schüchterne Kinder versuchen zwar auch manchmal, sich gegenüber Fremden oder in ungewohnten, als unsicher empfundenen Situationen, verbal zu entziehen. Sie antworten jedoch, wenn auch gehemmt, sobald sie angesprochen werden, oder kommunizieren von sich aus, wenn sie sich sicher und der Situation gewachsener fühlen. Bei einem elektiv oder selektiv mutistischen Kind würde genau das jedoch nicht passieren, denn diese Kinder entscheiden nicht bewusst darüber, ob sie schweigen oder reden, sondern die Situation "selektiert" darüber, ob der Sprechantrieb oder die Sprechangst die Oberhand behält.
Die große Mehrheit der mutistischen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen hat eine genetische Disposition zur Ängstlichkeit und Gehemmtheit. Man könnte sagen, sie haben die Tendenz, auf ungewohnte Situationen und fremde Personen extrem ängstlich und kommunikativ verschlossen zu reagieren, als Anlage geerbt.
Diese Kinder zeigen sehr oft schon im Kleinkindalter typische Angstsymptome wie Trennungsangst von den Eltern, extrem klammerndes Verhalten vor allem gegenüber der Mutter, wenig Drang zur körperlichen Bewegung, Einschlafstörungen, Launenhaftigkeit, Wutanfälle, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es wollen, sowie regelrechte Weinanfälle. Mit Beginn des Kindergartenalters, in dem man anfängt, sich zunehmend auch außerhalb der Familie sozial zu engagieren, manifestiert sich ihre fortdauernde Rede- und Kommunikationsangst als Mutismus, gepaart mit Symptomen wie starre Körperhaltung, leerer Gesichtsausdruck, Vermeidung der Blickfixierung, fehlendes lautes Lachen, Weinen und Husten.
Jüngere Forschungen haben weiterhin gezeigt, dass Kinder, die ein sozial gehemmtes Verhalten zeigen, über eine verringerte Reizschwelle ihres Angstzentrums im Gehirn, der so genannten "Amygdala", verfügen. Die Amygdala (auch Mandelkern) sendet neuronale Impulse aus, sobald sich ein Mensch in einer potenziellen Gefahrensituation befindet. Diese helfen dem Einzelnen, sich vor der Gefahr besser zu schützen, schnell aus einer gefährlichen Situation zu flüchten oder durch Veränderungen des Stoffwechsels die Aufmerksamkeit der Sinne zu schärfen. Bei extrem ängstlichen Menschen, also auch bei Mutisten, scheint dieses Angstzentrum viel heftiger zu reagieren, als es eigentlich zum Selbstschutz nötig ist. Es suggeriert dem Betroffenen eine Angstsituation, die eigentlich gar nicht existiert. Der Angstreflex ist zu fein justiert.
Bei Kindern mit (s)elektivem Mutismus werden die Angstreaktionen durch soziale Interaktionen wie Spielplatz, Schule oder durch soziale Zusammenkünfte ausgelöst. Auch wenn es scheinbar keinen logischen Grund für diese Ängste gibt, sind die Gefühle für das Kind äußerst real.
Zum Vergleich: Eine Person mit einer Spinnenphobie empfindet reale, lähmende Angst, wenn sie gezwungen wird, eine Spinne zu sehen oder gar anzufassen. Diese Person kann gedanklich durchaus verstehen, dass die Spinne harmlos ist, aber auch noch so viele Erklärungen werden die Ängste und die körperlichen Reaktionen wie Herzrasen, verschwitzte Handflächen, Harndrang und den starken Vermeidungswunsch der angstauslösenden Situation, nicht verringern.
Im Laufe der Zeit wird ein Kind mit Mutismus stumm aufgrund des Unvermögens, mit dem beängstigenden Gefühl umzugehen, das entsteht, wenn es einer Sprachanforderung ausgesetzt ist. Außer genetischen und biologischen Faktoren geht man gegenwärtig auch von weiteren komorbiden Einflüssen aus. So zeigt die Forschung, dass eine bedeutende Anzahl von (s)elektiv mutistischen Kindern Sprach- und Sprechstörungen aufweist. Darüber hinaus kommen ca. 21% der Betroffenen aus einem zweisprachigen Umfeld. Ein stressreiches Umfeld kann ebenfalls ein Risikofaktor sein. Keinen Beleg gibt es allerdings dafür, dass die Ursache des Mutismus mit Missbrauch oder einem Trauma zu tun hat. Es ist wichtig, diesen Punkt zu betonen, weil diese Vermutungen in der Vergangenheit favorisiert wurden und leider bis heute noch präsent sind.
Die letztgenannte Auffassung ist oft sehr schädlich für Hilfe suchende Familien. Obwohl keine wissenschaftlichen Studien für einen signifikant gehäuften Missbrauch existieren, sind einige Eltern fälschlicherweise des Missbrauchs angeklagt worden oder dazu gebracht worden, sich unter Verdacht zu fühlen. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Kinder mit (s)elektivem Mutismus nicht häufiger Opfer sexueller Gewalt wurden als Kinder, die altersgemäß kommunizieren.
Die Diagnose Mutismus wird normalerweise vom Kinderarzt oder einem Kinderpsychologen erstellt. Hierbei sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass selbst unter diesen Ärzten die Störung Mutismus noch relativ unbekannt ist. Nicht selten mussten Kinderärzte erst durch die Eltern über den Mutismus informiert werden. Häufiger bekannt ist der Mutismus bei Sprachtherapeuten. Die Sprachtherapie gehört seit Anfang der 90er Jahre neben der Psychiatrie und Psychologie als dritte Disziplin zu den Fachrichtungen, die Mutismus diagnostizieren und Schweiger behandeln.
Der Mutismus ist ein anerkanntes, eigendynamisches Störungsbild mit gravierenden psychosozialen Konsequenzen. Damit das betroffene Kind nicht in eine Lebenssackgasse gerät, sollte früh mit einer Behandlung begonnen werden. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit der sozialen Situation, auch wenn die Kinder im Kindergarten- bzw. Grundschulalter aufgrund ihrer sensiblen, defensiven Wesensart durchaus beliebt sein können.
Spätestens im Jugendalter gerät der mutistische Schüler in eine Außenseiterposition, wird er zum Fremdkörper im eigenen Klassenverband. Auf der weiterführenden Schule entwickelt sich der Mutismus zudem zu einem ausgeprägten Schulproblem. Reduzierte Schulabschlüsse und Berufsperspektiven sind in der Regel die Folge. Und schließlich: Ab der Pubertät, so die Erfahrung aus der Praxis, steigt die Kurve der Kombination von Mutismus und Depression sowie von Mutismus und Sozialphobie (häufig auch Schulphobie) steil an.
Eine erhöhte Suizidalität ist nicht selten. Damit eine derartige gesamtpersonale Gefährdung gar nicht erst entsteht, sollte bereits im Kindergartenalter mit einer Therapie begonnen werden. Befindet sich der Betroffene im Schulalter, so gilt für jede Stufe (Primarstufe, Sekundarstufe I und II) die Notwendigkeit einer schulbegleitenden Therapie. Wichtig: Auch im Erwachsenenalter ist eine Überwindung des Mutismus möglich.
Generell gilt: Die Therapieform richtet sich nach der abgeleiteten Primärätiologie (Erst- bzw. Hauptursache). Wird der Mutismus als Folge eines frühkindlichen Traumas interpretiert (leider noch häufig), so wird in der Regel eine analytische Spieltherapie empfohlen mit dem Ziel, diese verdeckte seelische Verletzung spieltherapeutisch aufzuspüren. Nimmt man dagegen einen latenten oder offen ausgetragenen Konflikt innerhalb der Familie an, so stellt die Familientherapie mit der Aufarbeitung der jeweiligen Beziehungsdynamik sowie der Aufdeckung von Ehekrisen und unbewussten Projektionsmechanismen zwischen den Generationen die geeignete Therapieform dar.
Die Sprachtherapie unterscheidet sich von den beiden erstgenannten Vorgehensweisen dadurch, dass sie nicht rückwärtsgewandt nach Traumata bzw. Konflikten in der Entwicklung der Schweiger sucht. Sprachtherapeutisches Handeln impliziert die aus der Familien- und Patientenanamnese ableitbare Annahme, dass es sich bei Mutismus um ein dispositionell bedingtes übersteigertes Angstempfinden handelt, das von Beginn der Entwicklung an den betroffenen Menschen in seiner sozialen und vor allem kommunikativen Entfaltung einschränkt.
Der Ist-Zustand des Betroffenen wird damit zum Ausgangspunkt einer in kleinen Schritten vorgenommenen Neukonfiguration von Sprechen und emotionaler Bewältigung von sozialen Situationen (in der Gruppe). Dabei wird folgende Didaktik berücksichtigt: Der Betroffene macht zunächst Geräusche nach oder sagt dem Therapeuten den Anfangsbuchstaben eines Bildsymbols. Es folgen Silben, später Ein-Wort-Antworten, dann kurze bzw. längere Sätze, schließlich das Vorlesen und der Schritt vom zielorientierten zum freien Sprechen. In der Endphase der Behandlung wird die Praxis verlassen und die Bewältigung von realen Alltagssituationen geübt (In-vivo-Therapie).
Die Verhaltenstherapie geht beim Mutismus von einem erlernten Verhalten aus, das sich durch neue Verhaltensmuster auch wieder verlernen lässt. Durch ein ebenfalls kleinschrittiges oder konfrontatives Vorgehen erfolgt eine Angstdesensibilisierung, um gefürchtete Situationen besser bewältigen zu können (siehe auch Fading und Shaping bei der Sozialphobie). Die Psychiatrie nimmt hinsichtlich der Entstehung des Mutismus neurobiologische bzw. biochemische Faktoren an (s.o.).
Durch spezielle Antidepressiva, die auf den Serotoninstoffwechsel einwirken, können Ängste reduziert werden. In den letzten Jahren mehren sich die Erfolge einer sprachtherapeutischen Behandlung, die im Jugend- und Erwachsenenalter, wenn erforderlich, medikamentös unterstützt werden kann. Die Entscheidung für eine der o.g. Therapieformen sollte, wie anfangs dargestellt, immer ursachengeleitet vorgenommen werden. Ein alleiniges Sich-Ausprobieren am Schweigenden ist strikt abzulehnen und fördert das ohnehin schon vorhandene Misstrauen gegenüber selbst ernannten "Fachleuten".
In jenen Fällen, in denen homöopathische Mittel erfolgreich eingesetzt wurden, erwiesen sich angstlösende Konstitutionsmittel als effizient.
Bei der Einbettung des Mutismus in eine schwere Depression und/oder Sozialphobie kann eine Indikation für einen Einsatz so genannter selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI = Selective Serotonin Reuptake Inhibitors) bestehen. Diese spezielle Gruppe der Antidepressiva führt zu einem Anstieg des Botenstoffs Serotonin im Hirnstoffwechsel, dessen zu niedrige Konzentration mit Depressionen, Angsterkrankungen, Aggressivität, Zwangsstörungen, Impulskontrollstörungen, Persönlichkeitsstörungen (Borderline), posttraumatischen Belastungsstörungen, Suizidalität und schizophrenen Psychosen in Verbindung gebracht wird. Eine medikamentöse Flankierung sollte immer in einen gesamten Behandlungsplan integriert werden.
Was zunächst wie ein völliger Widerspruch klingt, ist tatsächlich eine häufige Behandlungsmethode, eine Angststörung zu therapieren. In der Psychologie nennt man das entweder "Angstreduktion durch systematische Desensibilisierung" oder, je nach Intensität, "Konfrontationstherapie". Indem der Betroffene systematisch und durch Lob unterstützt regelmäßig den angstauslösenden Situationen ausgesetzt wird, erfolgt sukzessive eine Hinführung zur Unempfindlichkeit.