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Fachzeitschrift

Antje Bothin

Porträtfoto von Antje Bothin
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Ich fühlte mich wie ein Schatten meiner selbst

 

Wann hast Du realisiert, dass Dir das Sprechen in bestimmten Situationen schwerfiel?

Als Kind war ich gerne zuhause. Ich fühlte mich dort entspannt und konnte mit meinen Eltern und Geschwistern freisprechen. Aber wenn ich in der Schule war, schien es, als hätte ich mich in jemand anders verwandelt. Es war immer noch Ich, aber irgendwie auch nicht, nicht mein wahres Ich. Ich war angespannt und still, sehr still. 

„In der Schule war ich früher als die, die nicht redet bekannt.“

Als ich in die Schule kam, kannte ich die anderen Kinder kaum. Mit dem Lehrstoff hatte ich keine Probleme, aber ich habe mit den anderen Kindern in den Pausen nicht gesprochen. Auf dem Zeugnis stand: „Sie findet schwer Kontakt”.

Es fiel mir besonders schwer, jemanden anzusprechen. Deshalb konnten Freundschaften nicht entstehen und ich blieb oft allein. Im ersten Schuljahr saß ich in den Pausen meistens auf meinem Platz und bewegte mich kaum, während andere Kinder im Zimmer herumrannten. Den Unterricht durften wir nicht durch miteinander reden stören, es gab eine Strichliste für Fehlverhalten, ich hatte am Jahresende keinen Eintrag. Das galt damals als gutes Benehmen, aber ich hätte es nicht anders gekonnt.

Ich kann mich nicht erinnern, wann genau diese Schwierigkeiten begannen. Als Kind ohne Kindergartenbesuch hatte ich fast keinen Kontakt mit Gleichaltrigen. Ich habe auch als ich etwas älter war anfangs nicht darüber nachgedacht, dass ich mich in der Schule nicht so aufgeschlossen wie andere Kinder verhielt.

Wie fühlten sich die Reaktionen Deiner Mitmenschen an?

Einmal fragten mich Mitschülerinnen, warum ich nicht mit ihnen reden würde. Ich hatte keine Antwort. Ich hätte mir mehr Verständnis von meinen Mitmenschen gewünscht, aber selektiver Mutismus war zu jener Zeit nicht bekannt. Ich galt als sehr schüchtern und sollte mich ändern. Aber ich wusste damals nicht, wie. Zuhause dachte ich oft, morgen wird alles anders sein, aber sobald ich dann bei den Fremden in der Schule war, fühlte ich mich sofort wieder wie ein Schatten meiner selbst. Ich war in dieser Zeit bei fremden Leuten unfähig, meine wahren Gefühle offen zu zeigen, das war aber meistens auch nicht wirklich erwünscht. Es gab Situationen, wo Kinder und Erwachsene der Meinung waren, ich wäre stur oder arrogant. Missverständnisse, Mobbing und Bestrafungen waren nicht hilfreich.

„Sobald ich in der Schule war, fühlte ich mich sofort wie ein Schatten meiner selbst.“

Das Grüßen der Erwachsenen und Kinder war schwierig, es wurde aber ständig eingefordert und kontrolliert. Ich habe mich im Unterricht nicht gemeldet und in mündlichen Prüfungen sagte ich weniger als ich wusste, was mitunter zu schlechterer Bewertung führte. Es war aber einfacher über sachliche Themen zu sprechen als über mich persönlich.

Manchmal bekam ich nicht, was ich brauchte, besonders wenn man es verlangen musste. Falls das anderen auffiel, gab es gewöhnlich die Reaktion, warum ich denn nichts gesagt hätte. Meistens wurde es aber gar nicht bemerkt. Es ist beispielsweise vorgekommen, dass ich Wochen brauchte, um meine Banknachbarin etwas zu fragen, dass ich unbedingt wissen wollte. Bei Spielen konnte ich keine falschen Züge reklamieren oder spontan ausrufen, dass ich nur noch eine Karte übrig hatte, um dann Gewinnen zu können.

 

In welchen Momenten gelang es Dir zu sprechen?

In Gruppen wurde ich buchstäblich unsichtbar. Ich blieb stumm, während andere sich lebhaft unterhielten. Auf direkte, an mich gerichtete Fragen antwortete ich meistens sehr kurz. Antworten war einfacher als Menschen anzureden, aber wenn ich sprach, dann oft zu leise. Meine persönlichen Meinungen konnte ich nicht in Gespräche einbringen. Die Wörter, die ich hätte sagen wollen, waren manchmal in meinem Kopf, aber sie wurden nie ausgesprochen. Doch alle anderen konnten offenbar spontan los reden. Das verursachte Scham und ich versuchte, meine Schwierigkeiten zu verstecken. Sie wirkten sich aber auf alle Bereiche meines Lebens aus.

Da ich in der Öffentlichkeit so ruhig war, wurde mir nichts zugetraut und ich war nicht sicher, ob ich trotz entsprechender Noten auf das Gymnasium durfte. Es war in der Stadt und ich musste mit öffentlichen Verkehrsmitteln allein dahinfahren. Dort waren nun neue Mitschüler aus den Orten in der Umgebung, doch meine Situation blieb ähnlich. Niemand wollte neben mir sitzen, da es doch als langweilig erachtet wurde, dass man mit mir nicht reden konnte. Aber ich beschloss als Jugendliche, mich allein durch das Leben zu kämpfen. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Abitur wollte ich studieren.

Ich hatte früher keine Ahnung, was der Grund für meine Schwierigkeiten sein könnte. Als Kind glaubte ich alles, was mir gesagt wurde. Ich wurde häufig kritisiert und meine Leistungen wurden eher als selbstverständlich hingenommen, als dass sie eines Lobes würdig gewesen wären. Mein Selbstbewusstsein hat wahrscheinlich sehr darunter gelitten. Ich hatte oft Angst, etwas nicht zu schaffen und dass irgendjemand herausfinden könnte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich vermied deshalb damals Situationen, wo das Problem zu sehr auffallen könnte.

 

Wann hast Du das erste Mal von Mutismus erfahren?

Nach der Schule erfuhr ich aus einem Buch, das mein Problem einen Namen hatte. Ich informierte mich danach umfassend über das Thema und darüber, was ich dagegen tun konnte. Viel Material gab es damals nicht, aber es war ein Anfang.

Als dann im Studium Vorträge gehalten und Gruppenprojekte bearbeitet werden sollten, wuchs ich daran. So habe ich gar nicht bemerkt, wie ich mich durch die gestellten Anforderungen langsam verändert haben muss. Diverse Praktika halfen und Auslandsaufenthalte förderten meine Selbstständigkeit. Ich lernte beispielsweise, Fragen zu stellen und für meine Rechte einzutreten.

Akademisch war ich erfolgreich, doch eine Arbeit zu finden war nicht so einfach. Bei Vorstellungsgesprächen wurde mir damals oft gesagt, ich solle mehr aus mir rausgehen und durchsetzungsfähiger werden, was ich als sehr unangenehm empfand. Ich habe letztendlich bis zum Doktortitel studiert und einige Forschungsartikel veröffentlicht. Ich habe dabei erste Erfahrungen mit Führungsaufgaben gesammelt. Gruppendiskussionen wurden später immer wichtiger, insbesondere bei Schulungen.

 

Wie lebst Du heute mit Mutismus und was hat Dir auf dem Weg geholfen?

Heute lebe ich im Ausland und ich schreibe und übersetze englische Texte und unterrichte Sprachen. Ich habe Gedichte und Geschichten über alles Mögliche verfasst und ich hoffe, sie gefallen den Leuten.

Ich arbeite auch sehr gerne ehrenamtlich für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen, weil mir das sehr viel Freude macht. Seit ich in der Lage bin, mehr über persönliche Dinge preiszugeben, habe ich dort den Wert von Freundschaften zu schätzen gelernt. Es macht mir jetzt Spaß, mit anderen Freiwilligen zusammenzuarbeiten und ich beteilige mich gerne an Gruppenarbeiten oder leite diese.

3 Tipps, die Du teilen möchtest

Ich denke, es ist individuell unterschiedlich, wie es besser werden kann. Mein Tipp wäre, nicht aufzugeben, sondern an sich zu glauben. Selektiver Mutismus kann überwunden werden, man sollte nicht die Hoffnung verlieren und sich kontinuierlich kleinen Herausforderungen stellen, um persönlich weiter zu wachsen.

  • Informiere dich über selektiven Mutismus über Bücher, Blogs, Podcasts oder Videos. Du bist nicht allein damit und du kannst Unterstützung finden.
  • Mache kleine Schritte. Fange mit etwas Einfachem, das du leicht bewältigen kannst, an und mache die Aufgabe ganz langsam schwerer. Sollte etwas nicht funktionieren, mache die Aufgabe wieder etwas einfacher und bleibe motiviert. Jeder Versuch zählt und du kannst daraus etwas lernen.
  • Wiederhole das, was funktioniert öfters, damit du auch positive Erfahrungen sammelst. Würdige den Erfolg, auch wenn am Anfang noch nicht viel davon sichtbar ist. Es kann sein, dass du plötzlich etwas kannst, was vor einem Jahr noch unvorstellbar war.

Kontaktieren kann man mich über das Kontaktformular auf meiner Website. Da sind auch meine Veröffentlichungen zu finden.

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