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Alena

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Ich landete in einer Schublade, die keiner mehr öffnen wollte

Wann hast Du realisiert, dass Dir das Sprechen in bestimmten Situationen schwer fiel?

Mein Name ist Alena und ich bin 20 Jahre alt. Ich habe eine Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel absolviert und erfolgreich abgeschlossen. 

Mich begleitet der Mutismus schon von klein auf an. Die Diagnose bekamen meine Familie und ich in einem Alter von ca. 5 Jahren. Das Ganze begann damit, dass die Erzieher aus dem Kindergarten meine Eltern ansprachen und fragten: „Kann ihre Tochter eigentlich sprechen?". Meine Eltern berichteten, dass ich zuhause spreche wie ein Wasserfall.

Nicht immer gelang es mir zu sprechen, so auch bei Verwandten und zum Teil auch gegenüber meiner Familie.

Daraufhin wurden verschiedene Untersuchungen durchgeführt, um andere Ursachen auszuschließen. Zum nächstmöglichen Zeitpunkt wurden Therapien eingeleitet. Diese führten leider nicht zum gewünschten Erfolg.  

Mit Eintritt in die Schule wurden die Therapien erst einmal ausgesetzt, um die Konzentration auf die Schule zu legen und somit einer Überforderung aus dem Weg zu gehen.

Ich selbst habe das Wort selektiver Mutismus schon in der Grundschule wahrgenommen, aber erst viele Jahre später verstanden, was das eigentlich bedeutet und welche Folgen, sowie Begleiterscheinungen daraus resultieren.

Wann hast Du realisiert, dass Dir das Sprechen in bestimmten Situationen schwerfiel?

Realisiert habe ich das schon in der Grundschule, weil ich mich so gut wie nie am Unterricht beteiligt hatte und die Klassenlehrkraft meine Eltern gefragt hatte, ob ich nicht gern zur Schule gehe. Dabei bin ich gerne zur Schule gegangen. Mir wurde berichtet, dass ich traurig war, wenn ich keine Hausaufgaben auf hatte.

Erst auf der weiterführenden Schule habe ich so richtig gemerkt, dass ich anders bin als die Anderen. Da ich immer wieder der Herausforderung gestellt war, etwas vorzutragen oder mich auch am Unterricht beteiligen musste, aber dies nicht konnte.

Ich wollte mich immer am Unterricht beteiligen, diese Blockaden hinderten mich daran.

Aufgrund meines besonderen Verhaltens hatte ich Schwierigkeiten in Gruppenarbeiten mitzuwirken. Einen Zugang zu einer Gruppe zu finden, ohne diese ansprechen zu können, ist so gut wie unmöglich. Ich habe immer gehofft, dass mich jemand anspricht. Das war wohl immer nur ein Traum. Oft wollte ich auch nur normal sein.

Wie fühlten sich die Reaktionen Deiner Mitmenschen an?

Eine Mischung aus Mobbing, Bloßstellung, ausgeschlossen werden und Inakzeptanz, sowie eine sehr große Verständnislosigkeit und fehlender Respekt gegenüber mir! Oft auch demütigend. Dazu auch die fehlende Kommunikation unter den Lehrkräften und zu den Schülern! Vor allem in der Schule spiegelte sich das wider. Ich wurde in Gruppenarbeiten nicht aufgenommen. Sogar auf Nachfrage wurde ich mit zum Teil fiesen Worten stehen gelassen.
Oft kam es zu Situationen, in denen ich auf Nachfrage nur unklare Antworten erhalten habe. Durch eine von vielen Situationen hat sich mit der Zeit das Gefühl entwickelt: „Du gehörst nicht dazu, wir wollen dich nicht dabeihaben.“

Beispiel-Situationen:

  • Bei einer Exkursion zu einem außerschulischen Lernort sollten in kleinen Gruppen zu einem festgelegten Thema eine Ausarbeitung erfolgen.
    Wie immer hatte ich keine Gruppe. Auf Nachfrage einer Mitarbeit hat man mir eine unklare Antwort gegeben, die einem das Gefühl bestätigt: „unerwünscht zu sein - geh doch zu jemand anderes…“. dann bekommt man auch noch von der Lehrkraft zu hören, ich solle doch endlich mitarbeiten. Dabei wollte ich mitarbeiten! Es ist schwierig in einer Gruppe mitzuwirken, bei denen einem der Zugang verschlossen wird. Die Krönung ist, alle (aus der Gruppe) werden besser benotet, nur ich bekomme eine schlechtere Note dafür. Warum? Dabei geht man davon aus, dass die Lehrkraft Bescheid weiß.
  • Eine Situation hat mich besonders geprägt. Diese habe ich am wenigsten verstanden.
    Es sollte in kleinen Gruppen ein Referat vorbereitet werden. Alle hatten sich zu zweit bzw. zu dritt zusammengefunden. Ich war mal wieder über und sollte mir daraufhin eine Gruppe aussuchen (konnte ich nicht). Anschließend wurde die Klasse gebeten mich aufzunehmen. Dies dauerte einige Zeit, bis mich jemand mehr oder weniger freiwillig aufgenommen hat.
  • Auch Lehrkräfte zeigten wenig Verständnis und haben des Öfteren bemerkt, dass ich weit von den anderen in Gruppenarbeitsphasen absitze. Anstatt sie einen ansprechen, wird es einfach ignoriert und darüber hinweg geschaut. Es ist nicht so, dass ich nicht mitarbeiten wollte, ich habe mich einfach nicht getraut andere anzusprechen. Die Angst vor einer abweisenden Reaktion der Mitschüler war einfach viel größer. Ich war einfach der Situation hilflos ausgesetzt und konnte niemanden ansprechen, obwohl ich es wollte.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit dieser Diagnose besseren Anschluss finden und nicht allein gelassen werden. Eine bessere Zusammenarbeit mit Einrichtungen erfolgt und größeres Verständnis entgegengebracht wird.

Was hättest Du Dir von Deinen Mitmenschen gewünscht?

Respekt auf der einen Seite, aber vor allem Akzeptanz und Verständnis. Ich hätte mir auch gewünscht, dass eine bessere Kommunikation stattgefunden hätte und vieles nicht einfach unter den Teppich gekehrt wurden wäre. Es hat sich oft angefühlt, als wenn der Mutismus als Sache behandelt wird und nicht als ein ernstzunehmendes Störungsbild. Mein Eindruck war, dass eine Schublade geöffnet und für immer verschlossen wurde. Eine gezielte Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, nach der stationären Behandlungszeit wäre wünschenswert gewesen. Zudem sind Lernrückstände aufgetreten und das Selbstbewusstsein, das ich aufgebaut hatte, ist dadurch wieder zurückgegangen. 

Wie lebst du heute mit Mutismus und was hat dir auf dem Weg geholfen?

Seit meiner letzten erfolgreichen Behandlung (im Alter von 13 Jahren) in einer stationären Einrichtung (Sprachheilzentrum) hatte ich immer wieder Schwierigkeiten. In der Schule, Zuhause, in der Öffentlichkeit oder andere Situationen. Ich wurde mit den Worten entlassen: Sie sehen nur noch die Reste von selektivem Mutismus.

Ich habe viel erlebt und zum Teil bis heute mitgenommen, z.B. das Gefühl nicht dazu zu gehören. Auch habe ich immer wieder das Gefühl, das alle Worte oder Gedanken plötzlich weg sind.

Nach meinem Realschulabschluss habe ich die Höhere Handelsschule besucht und erfolgreich abgeschlossen. Anschließend habe ich eine 3-jährige Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel absolviert. Während der Ausbildung konnte ich sehr viel dazu lernen und habe meine noch vorhandenen Einschränkungen reduzieren können. Ich habe heute immer noch in einigen Situationen Schwierigkeiten, bei denen mir die richtigen Worte fehlen oder ich stark verunsichert bin.

Ich arbeite weiter an meinen Einschränkungen denn, jeder Tag ist eine neue Herausforderung, mit unterschiedlichen Ereignissen, die mich immer ein Stück voranbringen!

Zudem bin ich dankbar über den Aufenthalt im Sprachheilzentrum, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keine Therapie mehr mitmachen wollte.

3 Tipps die Du teilen möchtest

  • Nimm alle Therapiemöglichkeiten ernst und sei dankbar darüber, dass es Dir ermöglicht wurde. Nicht alle erhalten im Kindergarten eine Diagnose, sondern zum Teil sehr viel später. Je früher eine Behandlung erfolgt, desto größer sind die Heilungschancen.
  • Geh Deinen Weg und Du wirst an den Herausforderungen wachsen! Wenn ich mit Mutismus eine Ausbildung machen kann, kannst Du das auch!
  • Sei immer Du selbst und verstelle Dich nicht, nur weil ein Anderer das möchte. Nimm Dir die Zeit! Veränderungen kommen nach erfolgreicher Behandlung von ganz allein und es ist auch nie zu spät dafür.
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